Das Diamantenmädchen (German Edition)
gestohlen wurde.«
Und dann kam der Nachsatz, auf den er jetzt zwanzig Minuten hingearbeitet hatte:
»Ach, die Beschuldigte war übrigens der Ansicht, Ihre Frau hätte gesehen, dass sie schon um zwei Uhr wieder gegangen sei. Wir glauben das natürlich nicht, aber wir möchten sie doch bitten, morgen um zehn bei uns zur Zeugenaussage vorbeizukommen. Wollen Sie ihr das ausrichten?«
Dann wartete er. Das Schweigen und das Atmen am anderen Ende wurden schwer. Dann wollte der Mann etwas sagen, kiekste im Falsett, räusperte sich und fing an zu sprechen.
Zwei Minuten später stand Schambacher vor Athleten-Anna. Er war jetzt gespannter, als er zugeben wollte, und gab sich Mühe, sehr gelassen zu wirken. Das Licht der Schreibtischlampen vor den schwarz spiegelnden Fenstern, die den düsteren Herbstabend draußen hielten, zeichnete scharfe Schatten in alle Gesichter im Raum.
»Der Herr hat sich getäuscht«, sagte er langsam, »er zieht seine Anzeige zurück. Und jetzt will ich was hören, Ännchen.«
Athleten-Anna war aufgestanden, und beinahe hätte sich Schambacher, der ja nur mittelgroß war, von der Riesin umarmen lassen müssen, aber er hatte die Hand ausgestreckt, und Anna besann sich auf ihre Würde.
»In der Bar zum Papagei «, sagte Anna schließlich in reinem Hochdeutsch, und da hörte man auf einmal ihre Herkunft vom preußischen Rittergut, »da hat zwei Wochen eine amerikanische Band gespielt. Jazz und Swing und so, querbeet einmal übern Atlantik alles, was es so an moderner Musik gibt. Na, und für die anderen, da sehen die Schwarzen ja alle gleich aus, aber ich merke mir jedes Gesicht. Jedes. Und letzte Woche, am Freitag, da hat abends der Trommler gefehlt, und am Samstag war es dann ein anderer. Und der Trommler ist seitdem auch nicht wieder da gewesen.«
Einen Augenblick stand Schambacher da und überlegte. Dann ging er rasch aus dem Raum, ohne noch irgendetwas zu sagen. Erst im Ostflügel, auf den Treppen hoch zur Mordkommission, musste er grinsen. Ihm war etwas eingefallen. Jetzt würden sie nie erfahren, ob Anna dem Herren wirklich fünf Blaue geklemmt hatte oder nur den einen. Er zuckte vergnügt die Achseln, als er seinen Paletot aus dem Büro holte.
»Wo gehobelt wird«, murmelte er vor sich hin, als er die Treppen wieder hinunterlief, leichtfüßig, als ob es Morgen wäre und nicht zehn Uhr abends, »wo gehobelt wird, da fallen Späne.«
Und dann machte er sich auf den Weg zur Bar zum Papagei .
9
Es war das Jahr 1916, der Winter eigentlich noch gar nicht lang vorbei, aber mit zwei überraschend warmen Aprilwochen war der Frühling mit Macht gekommen. In allen Bäumen hing erstes Grün wie ein lichter Schleier. Es hätte auch Frieden sein können, so weit fort war der Krieg in diesen Tagen. Im Lyzeum ging es auf die Examina zu, und die Oberklasse, die Lilli besuchte, hatte nur noch in den Prüfungsfächern Unterricht. Die dadurch gewonnene Zeit sollte eigentlich zum Repetieren genutzt werden, aber natürlich gab es – wie in jeder Schule – eine kleine Gruppe von Mädchen, die Mittel und Wege fand, von den Studierstunden einen etwas anderen als den vorgesehenen Gebrauch zu machen. Eigentlich war es verboten, die Schule in den Freistunden zu verlassen, aber wenn man abwartete, bis die Pausen vorbei und die Gänge wieder leer waren, konnte man mit etwas Glück für kurze Zeit in eine echte Freiheit entfliehen. Die Mutter glaubte einen in der Schule, die Schule glaubte einen auch in der Schule, und nur die Freundinnen, die einem Deckung zu geben hatten, falls in der Bibliothek überraschend doch nachgefragt wurde, wussten, wo man war. Lilli spähte durch die marmornen Säulen des Treppenhauses im ersten Stock hinunter in die Aula. Man konnte das Fensterchen der Pedellswohnung, das in die Aula hinausging und von dem aus in der Pause die Brötchen verkauft wurden, gerade eben so erkennen. Aber es regte sich nichts dahinter, und der Vorhang war halb zugezogen. Wahrscheinlich schlief er. Das tat er meistens nach der großen Pause, wenn man ihn nicht brauchte.
Jeder stiehlt sich so seine Vergnügungen zusammen, dachte Lilli boshaft, als sie ganz leicht die Treppen hinuntereilte. Sie war stolz auf sich, weil sie schon heute Morgen daran gedacht hatte, die Segeltuchschuhe anzuziehen, auch wenn die Mutter nur den Kopf geschüttelt und auf den Raureif gedeutet hatte, der auf dem Rasen lag.
»Aber es wird heute ganz warm!«, hatte Lilli vergnügt gesagt, die Jalousien hochgezogen und nach Osten
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