Das Diamantenmädchen (German Edition)
»als hättest du den Frühling eingefangen, Paul.«
»Er hat einen Namen«, sagte Paul.
»Wirklich?«, Lilli war nicht umsonst jahrelang im Haus eines Diamantenschleifers ein und aus gegangen. Sie wusste, dass große Steine einen Namen hatten. »Ist das ein berühmter Stein?«, fragte sie ängstlich.
Paul lachte.
»Nein. Aber er wird bestimmt berühmt werden, weil du ihn trägst. Er heißt Green Despair .«
Lilli brauchte eine Sekunde zur Übersetzung. Dann fragte sie überrascht.
»Aber despair heißt doch Verzweiflung?«
»Weil er ein Glücksstein ist«, flüsterte Paul und machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Ich sage doch, es gibt eine Geschichte dazu. Hör zu!«
Es ging jetzt gegen zwölf. Die Sonne stand inzwischen so hoch, dass das Mausoleum ganz im Licht war und es auf den Stufen richtig warm wurde.
»Du musst dich nach Indien fliegen lassen«, sagte Paul, »zu einem Tempel wie diesem hier. Das Licht ist anders in Indien, strahlender, und der Himmel ist blau … so blau wie die Augen des Gottes, der in dem Tempel sitzt. Er ist aus Stein gehauen, aber seine Augen sind Diamanten, blaue Diamanten. Der Gott sitzt in dem Tempel, seit es die Welt gibt, aber eines Tages …«
Lilli hatte den Rücken an die Steinsäule gelehnt und den Kopf zurückgelegt, sodass sie durch die halb geschlossenen Augen die Luft über dem Kupferdach des Mausoleums flimmern sah. Paul erzählte mit leiser Stimme, manchmal flüsterte er nur, gleichzeitig spürte Lilli, wie der leichte Wind ihr Haar bewegte, und sie rührte sich nicht, um das Glück nicht zu vertreiben, das plötzlich in diese Stunde getreten war.
»… eines Tage kommt ein Sklave nachts in den Tempel. Lange schon will er frei sein, und obwohl er weiß, dass es ein Frevel ist, eine Sünde, und dass er bestraft werden wird, obwohl er all das weiß, bricht er dem Gott eines seiner Augen aus, weil er denkt, dass die Freiheit alle Strafen wert ist.«
Lilli dachte an die Schule und an ihre Mutter, an die Freundinnen und all die Pflichten und Schranken, die in jedem Tag lagen, und denen man nur für zwei Stunden wie diesen hier entfliehen konnte, und sie hörte an Pauls Stimme, wie er lächelte. Auf einmal nahm er, wie um noch einmal nach dem Ring zu sehen, ihre Hand, und es überlief Lilli für eine Sekunde, und sie ließ ihm ihre Hand genau so, als dürfe er den Ring ansehen.
»Tavernier hieß der Mann, der dem Sklaven begegnete«, fuhr Paul fort, »ein Abenteurer, ein Nichtsnutz, ein Gauner. Er war der erste Weiße, den der Sklave auf seiner Flucht sah; er bot ihm den Diamanten an, wobei er noch glaubte, es sei ein Saphir, weil er so blau war. Aber Tavernier hatte schon viel Schmuck gesehen und wusste, es war ein Diamant. Er schmuggelte ihn nach Frankreich und war – man weiß nicht wie – ein Jahr später im Besitz eines hohen Adelstitels und Ludwig XIV. im Besitz des größten blauen Diamanten der Welt.«
»Es gibt nicht viele blaue Diamanten, oder?«, fragte Lilli mit träge geschlossenen Augen, stolz, sich ein bisschen auszukennen.
»Fast überhaupt keine«, sagte Paul, »aber hör zu. Jetzt kommt der Fluch des Blue Hope . Ludwig gab den Diamanten einer seiner Mätressen. Die fiel in Ungnade. Nicolas Fouquet, der Finanzminister, wusste das nicht und lieh sich den Blue Hope für ein Festmahl beim König aus, um zu zeigen, was für einen exquisiten Geschmack er hatte. Und, was geschah?«, fragte Paul.
»Ich nehme an«, sagte Lilli boshaft, »der König war nicht erfreut.«
»Ganz richtig«, sagte Paul, »er nahm Fouquet den Blue Hope ab und warf ihn wegen Majestätsbeleidigung für fünfzehn Jahre ins Gefängnis. Der Blue Hope war da schon in Form eines wunderbaren Tropfens geschliffen und hieß eigentlich noch French Blue . Hundert Jahre später soll Marie Antoinette ihn getragen haben … na ja.«
Lilli saß auf den Stufen, und es war, als sei der Krieg und alles, was es außerhalb dieses Friedhofs gab, gar nicht wahr, sondern nur eine Geschichte. Allein die Vögel waren wirklich, die Stille in diesem sonnendurchschienenen Wald, die Steinstufen, auf denen sie saß und Paul.
»Na ja?«, fragte sie. »Wieso na ja?«
»Weil der Blue Hope auf einer Krawattennadel saß«, sagte Paul lächelnd, »da wird ihn Marie Antoinette kaum getragen haben. Aber geköpft wurde sie trotzdem, und es passt so schön in die Geschichte von dem Fluch. Und da sind wir schon bei der Revolution. Jetzt nämlich verschwindet der Stein. Er wird gestohlen.«
»Was für eine
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