Das Diamantenmädchen (German Edition)
rauschte und flüsterte die Musik.
»Das macht alles viel komplizierter, nicht wahr?«, fragte Lilli leise. Die Glut ihrer Zigarette leuchtete knisternd auf.
»Vielleicht«, sagte Schambacher und dachte nach, bevor er hinzufügte: »Aber erst morgen.«
Es war auf eigene Weise sehr schön, so zu liegen. Man fühlte sich unerreichbar. Weit fort von allem anderen. Die Stadt und ihr unaufhörlicher Betrieb, das war draußen. Die anderen mit ihrer Rastlosigkeit, mit ihren Begierden, ihren Plänen und ihrem Hasten, sie waren draußen. Gestern und morgen – auch das war draußen. Sie waren sich sehr nah. Ihre Hüften und Schultern berührten sich. Die Decke lag nur halb und leicht über ihren Beinen – es war warm.
»Wirst du Paul verhaften?«, fragte Lilli nach einer Weile leise. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte.
»Das kann ich nicht«, antwortete Schambacher ruhig, »solange du sagst, du seist bei ihm gewesen.«
Sie schwiegen. Sie hatten zu Ende geraucht. Lilli reichte aus dem Bett und setzte die Nadel des Grammophons wieder auf den Anfang der Platte. Abermals flüsterten die Streicher von einem fernen Fluss in einem anderen, bunten Land.
»Denkst du, er hat den Schwarzen ermordet?«, fragte Lilli dann.
Sie spürte, wie er leicht mit den Schultern zuckte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er, nachdem er eine Weile ernsthaft darüber nachgedacht hatte, »ich weiß es wirklich nicht. Aber alle Spuren führen zu ihm. Ein Philosoph namens Ockham hat mal gesagt, dass von allen Lösungen eines Problems immer die wahrscheinlichste die richtige ist.«
Lilli sann über diesen Gedanken, über sich selbst, über Schambacher nach. Da lag sie neben dem Mann, der ihren Jugendfreund jagte. Wie wahrscheinlich war das, überlegte sie.
»Vielleicht ist für uns beide Wahrscheinlichkeit nicht dasselbe«, sagte sie trocken.
»Vielleicht«, gab Schambacher zu.
Er legte sich auf die Seite und fasste sehr sanft nach ihrem Kinn, um ihr Gesicht zu seinem zu drehen.
»Ich wollte, es gäbe jemanden, der für mich so etwas tut«, flüsterte er.
Lilli wusste, dass er das Alibi meinte. Sein Gesicht sah in dem sehr schwachen Licht, das von den Straßenlaternen durch den Regen in die Wohnung fiel, sehr ernst und sehr jung aus. Sie wollte nicht antworten, deshalb küsste sie ihn sanft. Sie schwiegen, und ihre Gedanken schweiften. Schambacher dachte flüchtig an seine Frau, die er so jung geheiratet hatte und die jetzt wieder eine Nacht alleine zubrachte. Sie hatten sich wenig zu sagen, aber so war es eben. Immer schon war er pflichtbewusst gewesen, und Träume hatte er sich nur in den allerstillsten Stunden der Nacht erlaubt. Und jetzt lag er hier, hörte Musik und atmete den Duft einer schönen jungen Frau, die ihm verboten war.
Lilli dachte an Paul und wie er früher gewesen war, an die kurzen Affären, die sie gehabt hatte und die doch immer an ihrer Jugendliebe gescheitert waren, weil keiner an das Bild ihres Paul heranreichte, keiner so einfühlsam und ihr so nah sein konnte wie er, den sie kannte, seit sie denken konnte. Und nun lag sie hier und hörte den ruhigen Atem eines Mannes, den sie vielleicht hätte lieben können, wenn er nicht der Mann wäre, der Paul jagte.
»Es gab einen Ort«, begann Lilli unvermittelt zu erzählen, halb flüsternd, so wie man ihr als kleinem Mädchen nachts Märchen erzählt hatte, »einen Ort in der Wüste Afrikas, die nur von einer schmalen Eisenbahnlinie durchquert wurde, die immer vom Sand zugeweht wurde. Ein ganz verlorener, trauriger Ort. Da ist eines Tages der Reichsbahninspektor August Stauch angekommen, verzweifelt und einsam und krank.«
Schambacher hatte sich in sein Kissen zurückgelehnt, noch eine Zigarette genommen und hörte zu. Er spürte, dass dieses Erzählen fast intimer war als miteinander zu schlafen.
»Er war dreißig Jahre alt und hatte unheilbares Asthma. Die Wüstenluft, hieß es, sei seine einzige Rettung. Er hatte Frau und Kind zu Hause gelassen und saß jetzt in der Namibwüste bei Kilometer 27 an der Linie vom Atlantik nach Lüderitz.«
Sie machte eine kleine Pause und dachte nach. Dann nahm sie Schambacher zärtlich die Zigarette aus dem Mund und zog ein-, zweimal.
»Mein Bruder wollte auch immer nach Afrika«, sagte sie dann ohne Trauer, mit einer fast abgeklärten Sehnsucht. Schambacher schwieg. Er legte eine Hand an ihren glatten, warmen Rücken. Die Platte war wieder zu Ende, aber diesmal ließ Lilli das Grammophon auslaufen. Man hörte nur noch
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