Das Doppelspiel
Major.« Vitali Polikarpowitsch lief auf den Bahnsteig, hob seine rote Kelle und winkte mit ihr. »Zug nach Odessa!« brüllte er. »Vorsicht! Zurücktreten!«
Der Zug hielt mit knirschenden Bremsen. Ein Kopf tauchte im Fenster der Lok auf. Es konnte nur Kostylew sein, denn der Mann brüllte sofort: »Wieso ist das Signal rot, du alter Bock? Hast wieder gesoffen die ganze Nacht und kannst nicht mehr die Farben unterscheiden! Gib die Strecke frei, du verrostete Pfanne!«
Dann sah er den Major auf dem Bahnsteig stehen, verschluckte sofort alle weiteren Worte und verschwand wieder in seiner Lok.
»Sag' ich es nicht?« meinte Baidukjew und riß die Tür des Wagens 1. Klasse auf. Ein Schaffner, der vom Ende des Zuges heranhetzte, griff den Koffer und trug ihn in den Zug. »Aber jetzt juckt ihm die Hose, dem guten Kostylew. Hat Sie gesehen und schwupp, war er weg! Gute Fahrt, Genosse Major …«
Shukow stieg ein, betrat ein Abteil, in dem sich nur ein schlafender Mann in die Ecke drückte, und setzte sich. Der Schaffner hob den Koffer in das Gepäcknetz und entfernte sich schnell. Draußen hob Baidukjew seine Kelle. Freie Fahrt. Seine Frau Rimma Theofilowna drückte das Signal auf Grün.
»Das war ein feiner Mann«, sagte Vitali Polikarpowitsch nachher und setzte sich wieder an den Tisch, tunkte seinen Butterkuchen in den Tee und aß mit behaglichem Schmatzen. »Es ist geradezu ein Erlebnis, sich einmal wieder mit gebildeten Leuten unterhalten zu können. Stell dir vor, Rimma, er hat mich nicht einmal einen Hohlkopf genannt! Ein Herr von Welt, sage ich!«
»Was macht ein Major morgens um sechs allein mit einem Koffer bei uns in Bilaki?« fragte Rimma Theofilowna nachdenklich. »Wo kommt er her?«
»Hättest du ihn gefragt, he?« schrie Baidukjew erregt. »Gedanken haben diese Weiber! Ein Major der Roten Armee darf überall sein, zu jeder Tageszeit! Man fragt ihn nicht. Nie!«
»Aber merkwürdig ist es doch.« Sie setzte sich und blickte auf den nun wieder leeren Bahnsteig. »In Bilaki fallen doch keine Offiziere vom Himmel! Überleg mal –«
»Er war ein feiner Mann!« sagte Baidukjew endgültig und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Und er hat mich behandelt, als sei ich seinesgleichen. So etwas erlebt man nicht alle Tage!«
In Odessa stieg Shukow aus, informierte sich am Aushang über den nächsten Zug in Richtung Winniza und sah, daß er in Shmerinka umsteigen mußte. Es gab auch einen späteren Zug, der direkt bis Kiew durchfuhr und in Winniza hielt, aber Shukow entschloß sich, so schnell wie möglich aus der Küstennähe wegzukommen und in der weiten fruchtbaren Ebene der Ukraine unterzutauchen. Die beiden ersten Einsätze waren erstaunlich einfach gelungen: die Landung in Rußland und die Fahrt nach Odessa.
Wassja Grigorjewitsch tat das, was man als Offizier immer tut, wenn man auf einen Zug warten muß: Er setzte sich in einen der prächtigen, mit Marmor verkleideten, von riesigen Kristallüstern erleuchteten Wartesäle und bestellte ein Glas Krimwein. Von Fotos kannte er den Bahnhof von Odessa, aber trotzdem war er überwältigt von der Verschwendung, mit der man hier gebaut hatte. Bahnhöfe, Untergrundbahnen, Stadien und Kongreßhäuser waren ja von jeher der Stolz der Sowjets, eine Demonstration ihrer Größe und ihrer nie zerbrochenen Kultur. Was Worte nicht vermochten klarzumachen, in den Bauten drückte man es unübersehbar und unüberhörbar aus: Rußland ist ein Land der Ewigkeit.
Es war so, wie man es in Fort Thompson erwartet hatte, weil man den russischen Charakter genau studiert hatte. Shukow wurde nicht belästigt, nicht gefragt, nicht kontrolliert. Seine Uniform genügte als Ausweis seiner Integrität. Wer käme auch auf den Gedanken, daß auf dem Bahnhof von Odessa ein amerikanischer Offizier in der Maske eines Majors der Roten Armee eine Fahrkarte nach Winniza löst? Ebensowenig, wie man einen amerikanischen Major in Philadelphia anhält, wenn er nach New York fährt.
Shukow bekam einen Platz in einem Abteil, in dem noch ein Ingenieur, ein Arzt und ein Architekt saßen, die auch in Shmerinka umstiegen, aber weiter nach Kiew wollten. Es war eine einsilbige Reisegesellschaft, was vielleicht daran lag, daß der Major sehr hochmütig in die Gegend blickte und anscheinend keine Lust zu einer Unterhaltung zeigte. Schließlich spielten der Architekt und der Ingenieur Schach – ein Russe hat fast immer ein Reiseschachspiel bei sich –, und der Arzt ging in das Speiseabteil, um einen Tee zu
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