Das Dorf der Katzen
der von Steuerbord kommend quer vor dem Bug hin und her kreuzte. Ein zweiter Schatten gesellte sich dazu.
Delphine!
Sie rief es Jack zu.
Der nickte. „Dann steht unsere Fahrt unter einem guten Stern“, rief er zurück. „Delphine schwimmen nur mit glücklichen Schiffen! Das wissen die Seefahrer aller Völker! Für die Minoer von Kreta waren Delphine sogar heilig. Wehe dem, der einen Delphin verletzte oder gar tötete!“
Der Nachmittag verging. Vera hatte unter Deck eine kleine Kombüse entdeckt und sich nützlich gemacht. Sie brachte Jack Kaffee und machte später ein paar belegte Brote.
„Wie weit ist es noch?“, fragte sie Jack, als es sechs Uhr abends wurde und ringsum immer noch nichts außer Wasser zu sehen war. Kein Schatten am Horizont, der näher kommendes Land angezeigt hätte, nichts. Jack sah auf die Uhr. Dann auf seinen Fahrtanzeiger. „In etwa fünf Minuten wird Phelisonissi am Horizont auftauchen“, sagte er ruhig. Wir werden in einer Stunde in Illasandria anlegen.“
„Illasandria?“
„Ja, das ist die sogenannte Hauptstadt der Insel.“ Er grinste wieder. „Eine Taverne, eine Kapelle, ungefähr hundert Häuser, davon vierzig bewohnbar und von denen wiederum zwölf bewohnt. Einwohnerzahl: ungefähr vierzig Menschen, dreihundert Ziegen und ein paar Esel. Strom und Wasser vorhanden. Telefon zum Festland nicht. Handyempfangsloch. Nur Funk ist möglich.“
„Wirklich, sehr ruhig“, dachte Vera.
„Wenn Illasandria die ‚Hauptstadt’ ist, dann gibt es also noch ein paar andere Orte auf Phelisonissi?“, fragte sie dann.
„Orte nicht“, sagte Jack. „Nur noch einen weiteren Ort. Choriogatos. Der liegt genau auf der entgegen gesetzten Seite der Insel, Luftlinie etwa fünf Kilometer von Illasandria.“
„Und was hat dieses Choriogatos zu bieten?“, fragte Vera.
„Das weiß ich nicht genau“, sagte Jack. „Ich fahre nur Illasandria an. Allerdings heißt ‚Choriogatos’ grob übersetzt so viel wie ‚Katzenort’ oder ‚Dorf der Katzen’ und in Illasandria erzählt man sich einige kuriose Geschichten über diesen Ort. Märchen vermutlich.“
Katzenort! Vera war wie elektrisiert. Diesen Ort musste sie unbedingt besuchen, das stand schon einmal fest.
Wenn sie geahnt hätte, unter welchen Umständen sie Choriogatos dann tatsächlich kennen lernen würde, hätte sie Jack auf der Stelle ins Steuerrad gegriffen und den Kutter noch in der gleichen Nacht eigenhändig nach Rhodos zurückgefahren.
So aber hielten sie weiter auf den Horizont zu und kamen Phelisonissi näher.
Kurz darauf zeichnete sich dann auch gegen die langsam tiefer gehende Sonne ein dünner kurzer Strich am Horizont ab.
Jack zeigte über den Bug nach vorn. „Phelisonissi“, sagte er. „ Wir sind so gut wie da!“
Eine halbe Stunde später waren sie in Sichtweite der Insel. Vera reckte den Hals. „Wo ist Illasandria?“
So glatt die Fahrt auch verlaufen war, allmählich wollte sie wieder festen Boden unter den Füßen haben.
„Da an Backbord, die felsige Landzunge. Um die müssen wir noch herum, dahinter liegt der Ort!“
Jack umfuhr langsam die hohe Landzunge, die wie der Kopf eines halb getauchten Krokodils ins Meer hinausragte und Illasandria kam ins Blickfeld. Vera zog überrascht die Luft durch die Zähne. Das war ja ein Amphitheater!
Illasandria lag hufeneisenförmig um einen Einschnitt, der das Meer in Form einer langgezogenen Bucht tief in die Insel ließ.
Das Inselniveau war an dieser Stelle ziemlich hoch und damit der Einschnitt so tief, dass die Bucht von steilen Wänden eingefasst wurde, an denen die Häuser regelrecht klebten. Jedes Haus ragte fast zur Hälfte über das vor ihm stehende, so steil gestaffelt standen sie hintereinander.
Im Licht der untergehenden Sonne sah Vera, dass die Gebäude zum Großteil in erbärmlichem Zustand waren. Eingefallene Dächer und leere Fenster- und Türöffnungen verrieten, dass seit langem niemand mehr darin wohnte.
Nur unten an der Bucht, die den Naturhafen bildete, standen Häuser, die einen bewohnten Eindruck machten. Zwischen ihnen und dem Wasser verlief eine breite Straße, die dem Verlauf der Bucht folgte.
Jack steuerte den Kutter geschickt längsseits an eine Anlegestelle am Pier. Alte Autoreifen federten den leichten Anprall an die Hafenmauer zusätzlich ab.
Ein halbwüchsiger schlaksiger Bengel saß auf einem wie ein Pilz aus dem Beton wachsenden Poller und winkte. Jack warf ihm eine Leine zu, die der Junge rasch und geschickt an
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