Das Dorf der Mörder
da?«
Ihr Blick fiel auf die Papierknäuel. Sie stellte ihre Arzttasche vor dem Tresen auf den Boden.
»Was ist das?«
»Nichts.«
Er fühlte sich wie ein Sechsjähriger, den man an der Bonbonschale erwischt hatte. Sie schnappte ein Knäuel und faltete es auseinander. »Ich vermisse dich«, las sie. »Wo bist du? – Ach Jeremy. Ich habe einen Job und Patienten, die sich nicht nach Sprechstunden richten.« Sie trat auf ihn zu und wollte ihn küssen, aber er wich ihrer Berührung aus.
»Bist du sauer?« Sie warf alles in den Papierkorb. Wenn sie die Medikamentenpackungen bemerkte, dann ließ sie es sich nicht ansehen. »Ich hatte einen Notfall. Ein Fohlen wollte nicht raus, ich muss erst mal duschen. Vivi ist nicht da, ich habe ihr freigegeben. Kommst du mit?«
»Wohin?«, fragte Jeremy irritiert.
»Nach oben.«
Sie zog ihn an sich. Sie roch nach Stall und Schlamm. Nach Gülle und Blut. Und nach einem Hauch von Liebe.
Später trafen sie sich in der Küche. Sie hatte sich die Haare mit einem Einmachgummi zu einem Pferdeschwanz gebunden und ein Sommerkleid angezogen. Gerade wühlte sie sich scheppernd durch einen Küchenschrank voller Töpfe und Pfannen.
»Wird das mein Frühstück?«
»Ich habe Hunger.« Strahlend präsentierte sie ihm eine nagelneue Teflonpfanne. »Rührei?«
Er nahm sie in den Arm und küsste sie.
»Hol schon mal welche aus dem Kühlschrank.«
Während er die Eier aufschlug und sie ein Stück Butter in der Pfanne schmelzen ließ, beobachtete er sich selbst inmitten dieser eigentlich alltäglichen Situation, die ihm immer noch vorkam wie eine Filmszene. Überirdisch schöne Frau und verkaterter, unrasierter Mann in einer so gut wie nie benutzten Küche.
Zum Essen setzten sie sich an einen Glastisch, auf dem eine leere Obstschale aus Chromargan stand.
»Warum bist du noch hier?«, fragte sie.
»Warum wohl?«, gab er ihre Frechheit zurück und biss in ein Stück Toastbrot.
»Um auf mich aufzupassen?«
»Auch.«
»Das ist nicht nötig.«
»Wo warst du?«
Sie stellte die Kaffeetasse ab, aus der sie gerade getrunken hatte. »Auf einem Ponyhof an der Mulde. Was soll das? Kontrollierst du mich? Bist du deshalb gekommen? Hat dein Professor gesagt, ich brauche einen Aufpasser?«
»Nein. Ich bin hier, weil ich dich sehen wollte. Weil ich mir Sorgen gemacht habe. Ich will dich nicht alleinlassen in dieser Situation. Deine Schwester ist vor ein paar Tagen gestorben, und du tust …«
»Was tue ich? Ich trauere nicht so, wie man das im Allgemeinen zu tun hat? Ist es das? Soll ich Schwarz tragen? Die Tiere verrecken lassen?«
Sie zog eine Toastscheibe aus dem Halter und begann, sie wütend mit Butter zu bestreichen. Der Toast zerbrach. Sie warf das Messer auf den Teller. Noch bevor er beruhigend die Hände heben konnte, hatte sie den Schalter umgelegt.
»Okay, Jeremy. Sag mir einfach, was los ist. Fickst du mich aus therapeutischen Gründen?«
Hätte diese Frage ihn unvorbereitet getroffen, wäre er wortlos aufgestanden und gegangen. Doch er hatte gelernt. Cara kam mit ihren eigenen Emotionen nicht zurecht. Alles, was über ein geregeltes Gleichmaß an Gefühlen hinausging, warf sie völlig aus der Bahn. Sie wusste sich nicht anders zu helfen, als wild draufloszuschlagen. Egal, wen sie damit treffen würde.
»Warum lächelst du jetzt so?« Wütend blitzte sie ihn an. »Habe ich was Lustiges gesagt?«
»Wie viele Männer hast du auf diese Weise eigentlich schon in die Flucht gejagt?«
Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ist doch egal. Mit mir hält es sowieso keiner aus. Warum soll ich mir Mühe geben? Zeitverschwendung. Brauchst du noch lange?«
Sie deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf seinen Teller.
»Ja«, antwortete er. »Richte dich schon mal darauf ein.«
Sie schnappte nach Luft. »Auf was? Ich will dich nicht. Dich nicht und deine gottverdammte Praxis und diesen gütigen Halbgott mit Nickelbrille, der aussieht wie eine Karikatur von Sigmund Freud. Wenn du das nicht kapierst, dann musst du auf die Couch. Meine Schwester hat versucht, mich in den Wahnsinn zu treiben. Sie ist … sie war eine Mörderin. Weißt du, wie man um so jemanden trauert? Ja? Dann kannst du es mir gerne verraten. Aber mach mir keine Vorschriften, was ich wie zu tun oder zu lassen habe! – Isst du das noch auf? Sonst kann ich es dir einpacken.«
Sie deutete auf Jeremys angebissenen Toast und das kalte Rührei.
»Charlie war keine Mörderin«, sagte er.
Cara sah ihn lange an. Dann räumte
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