Das Dorf der Mörder
Traumatherapeutin in der Kinderchirurgie der Charité arbeitete, die Terrasse des Tennisclubs Rot-Weiß in Dahlem. Er steuerte auf den letzten noch freien Tisch zu. Ein anderes Paar hatte die gleiche Idee – Jason Saaler mit seiner jungen Begleitung, Henriette ihr Name, so glaubte Brock sich zu erinnern.
»Ihr Tisch.« Er reichte Saaler die Hand und begrüßte Henny ebenso freundlich, wie er das grundsätzlich mit allen wechselnden Damen an der Seite des Kollegen getan hatte. Mechthild verhielt sich etwas zurückhaltender. Sie war mit Saalers Ehefrau befreundet gewesen.
»Nein, Ihrer.« Saaler trat zur Seite.
»Warum setzen wir uns nicht alle zusammen?«, fragte Henny in entzückender Naivität. Brock dachte: Weil meine Frau vielleicht mit ihren über fünfzig Jahren nicht nur Probleme damit hat, gemeinsame Gesprächsthemen mit einer Studentin zu finden, sondern auch, weil ihr die Situation nicht gefällt? Weil sie sich fragt, wie ein Mann wie Saaler einfach über zwei Generationen Altersunterschied hinweggehen kann? Und sie im Geheimen diese Frage auch auf uns überträgt? Er sah, wie Mechthild an ihrem Poloshirt zupfte und sich nervös durch die Haare fuhr, die immer noch diesen wunderschönen nussbraunen Schimmer hatten, auch wenn sie hier und da von silbernen Strähnen durchzogen waren. Er liebte es, seine Frau altern zu sehen. Er hatte das Gefühl, dass ihre Würde und Schönheit wuchsen, und er hoffte, dass auch sie ihn durch den Weichzeichner der Liebe betrachtete. Auch er war keine zwanzig mehr.
»Eine wunderbare Idee.« Saaler küsste seine Henny auf die Wange. Sie lächelte und schmiegte sich an ihn.
Brock spürte Mechthilds unterdrückten Seufzer mehr, als er ihn hörte. Es war auch für sie eine harte Woche gewesen. Und er, Gabriel, trug immer noch am Tod von Charlotte Rubin und den unlösbaren Rätseln, die ihnen diese starke und gleichzeitig so verwundbare Frau hinterlassen hatte. Er hatte den Abend nutzen wollen, um mit Mechthild darüber zu reden. Er tat das nur in außergewöhnlichen Fällen. Meist versuchten sie, das Berufliche in dem Moment hinter sich zu lassen, in dem sie ihr Zuhause betraten.
Doch der Fall Rubin war anders. Zwei Schwestern, nicht nur optisch ein Gegensatz, auch von ihrer Persönlichkeits struktur her absolut unterschiedlich. Die eine, Charlie, war abweisend bis zum Hochmut, lebte zurückgezogen, unauffällig und verletzte sich selbst, wenn es zu Konflikten kam. Die andere, Cara, ein flirrender Sonnenschein, eine Art everybody’s darling, die diese Vorschusslorbeeren aber mit destruktiver Lust zerschoss und den anderen die Trümmer um die Ohren fliegen ließ. Und dennoch hatten beide Schwestern eins gemeinsam: Die Welt war ihr Feind. Die eine verschanzte sich vor ihr, verkroch sich und versuchte, sich ihr zu entziehen, wann immer es ging. Die andere wollte diesen Feind verwirren, hinters Licht führen, ihm flink wie ein Salamander durch die Finger schlüpfen. Beide Strategien hatten ein und denselben Ursprung. Brock hatte ihn nicht herausfinden können. Charlies Tod war seine große persönliche Niederlage.
Er hatte eigentlich nur mit Mechthild den milden Sommerabend genießen wollen, eine Kleinigkeit essen, ein bisschen miteinander reden, sich die Wunden mit Trost verbinden lassen wollen. Gemeinsam mit einem Turtelpärchen am Tisch zu sitzen war eine Herausforderung. Sie hatten andere, diskrete, aber nicht minder innige Wege gefunden, sich der gegenseitigen Zuneigung zu versichern. Wege, für die man Jahrzehnte brauchte und die dafür auch noch nach Jahrzehnten in die richtige Richtung führten.
Doch Brock, noch unter dem Eindruck der Ereignisse des Tages, nickte. Er war schon versucht gewesen, Jason Saaler anzuru fen. Nun führte sie der Zufall zusammen, das war natürlich viel besser.
»Wir wollen nur eine Kleinigkeit essen«, sagte er und drückte Mechthilds Arm. Das hieß: Du hast was gut bei mir. Sie entzog sich seinem Griff. Das hieß: Ich kann die Gefallen, die du mir schuldest, schon gar nicht mehr zählen.
Sie nahmen Platz. Brock und Mechthild auf der einen Seite, im Rücken die Tennisplätze, im Blickfeld den Grill, an dem sich bereits eine Schlange gebildet hatte; Saaler und Henny ihnen gegenüber. Für die Kinder der Gäste hatte man einen Extrabereich reserviert. Ein Zauberer machte gerade kleine Kunststückchen, die von den Kleinen begeistert bejubelt wurden. Ein aufmerksamer Kellner huschte vorbei, Brock bestellte für sich ein Bier, für Mechthild ein
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