Das Dorf der Mörder
sie rücksichtslos die Teller ab, warf die Essensreste in den Mülleimer und stellte das Geschirr scheppernd in die Spüle.
»Die Ermittlungen laufen noch. Oder schon wieder. Gestern war ein Mann von der Kripo da. Es scheint Zweifel zu geben, ob Charlie diesen Mord wirklich begangen hat.«
Er stand auf und ging zu ihr. Sie ließ kaltes Wasser über das Geschirr und dann über ihre Handgelenke laufen. Er legte seine Hände auf ihre Schultern. Sie ließ es geschehen. Nach einer halben Ewigkeit fragte sie mit erstickter Stimme: »Was sagst du da? Warum erst jetzt? Warum erst nach ihrem Tod?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber … wer soll es denn dann gewesen sein? Sie hat es doch zugegeben!«
»Ich weiß es nicht«, wiederholte er.
»Warum?«, schrie sie. »Warum? Warum? Warum?«
Sie drehte sich um und schlang ihre nassen Arme um seinen Hals. Er drückte sie an sich und streichelte zärtlich ihre zuckenden Schultern. Sie weinte, weinte wie ein Kind: untröstlich.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte er immer wieder wie ein Mantra. Endlich beruhigte sie sich etwas. Er führte sie zurück an ihren Stuhl und zog sich einen zweiten heran. Sie ließ die Schultern hängen und starrte ins Leere.
»Cara, wir brauchen deine Hilfe. Auch wenn es dir schwerfällt und du deine Gefühle nicht unter Kontrolle hast. Charlie ist tot. Sie hat die Tat gestanden, aber wenn es Zweifel gibt, ob sie es war, dann schließe ich daraus, dass der wahre Mörder noch immer frei herumläuft.«
Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht, sagte aber nichts.
»Dann glaube ich sogar, dass sie ihn gekannt hat. Und dann …«
Er wagte nicht weiterzusprechen. Er wollte ihr keine Angst machen. Doch sie verstand, was er angedeutet hatte.
»Dann kenne ich ihn auch?«
»Professor Brock vermutet, dass der Mord an Werner Leyendecker kein Akt des Zufalls war. Er glaubt, dass Charlie eine Psychose hatte. Ihre Selbstmordversuche deuten auf ein schreckliches Erlebnis in ihrer Kindheit hin. Erst als sie euer Dorf verlassen hat, besserte sich ihr Zustand. Um sich dann vor wenigen Monaten fürchterlich zu verschlechtern. Wieder versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Sie tut es nicht aus einem Gefühl der Schuld, sondern aus Angst. Charlie hat niemals Gewalt gegen andere ausgeübt, immer nur gegen sich selbst. Sie nimmt den letzten Fluchtweg, der ihr bleibt.«
»Sie wollte wirklich weg? Weg von hier, aus dem Leben?«
»Ja. Das wollte sie wirklich. Und wenn du nicht so gut auf sie aufgepasst hättest, wäre es ihr schon viel früher gelungen.«
Mit einem Stöhnen lehnte sie sich zurück und starrte an die Decke. Ihre Augen waren nass von Tränen, ihre Haut fleckig rot vom Weinen. Jeremy wusste, dass er sie in diesem Moment zum ersten Mal erreichte.
»Um zu wissen, was Charlie so in Panik versetzt hat, brauchen wir deine Erinnerung. Nur dann können wir auch herausfinden, wer der wahre Schuldige an eurer und deiner Tragödie ist.«
»Meiner Tragödie?« Ein spöttisches Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel.
»Ja.«
Sie wurde ernst und richtete sich auf. »Du glaubst also wirklich, alles hat in Wendisch Bruch angefangen?«
»Ja.«
»Ich kann mich aber an nichts richtig erinnern. Nur diese ständige Angst um Charlie, die Wut und der Hass auf sie. Das ist noch da. Der Rest … ich weiß, wie mein Zimmer ausgesehen hat und es im Frühjahr stank, wenn die Gülle auf den Feldern verklappt wurde. Ich kann mich an den Bäcker erinnern und an den Fleischer. Daran, als die letzten Schafe weggetrieben wurden, und wie es war, wenn wir ein Huhn geschlachtet haben. Wir hatten Fliegenfänger in der Küche, lange Leimspiralen, an denen sie kleben blieben. Wir haben direkt unter ihnen gegessen. Manche haben noch die Flügel bewegt. Willst du das wissen?«
»Das und noch viel mehr.«
»Ich weiß aber nicht mehr!« Sie sprang auf. Lief unruhig zur Spüle, wieder an den Tisch, nahm sich ein Glas und ließ Wasser einlaufen, das sie gierig trank.
»Dann gibt es nur eine Lösung«, sagte er.
Sie stellte das Glas ab. In ihren Augen flackerte Angst.
»Lass mir Zeit. Ich muss nochmal drüber schlafen. Morgen. Okay? Morgen?«
»Alle Zeit der Welt.«
Er trat auf sie zu und küsste sie. Zögernd, wie ein Hund, den man zu oft geschlagen hatte, ließ sie sich darauf ein.
»Und was machen wir bis dahin?«, flüsterte sie.
Jeremy sagte nichts. Er fand, es gab bessere Wege, ihr zu antworten.
30
G abriel Brock betrat mit seiner Frau Mechthild, die als
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