Das Dorf der Mörder
heraus, die Luft war dort einfach besser. Er ließ sich noch einmal durch den Kopf gehen, was Vieritz ihm erzählt hatte.
Leyendecker und sein Kompagnon Göhler waren tatsächlich in Wendisch Bruch gewesen, dem Heimatdorf von Charlotte Rubin. Damals war sie ein dreizehnjähriges Mädchen gewesen. Vier Jahre später stirbt der eine, über zwanzig Jahre später der andere. Und dazwischen verschwanden die Männer von Wendisch Bruch.
Erst auf dem Nachhauseweg wurden ihm zwei Dinge klar: Das war kein Zufall. Und Beara hätte sich, komme, was wolle, schon längst gemeldet.
32
N acht. Tiefdunkle Nacht. Es musste Nacht sein, denn die Finsternis war ebenso überwältigend wie trostlos. Sanelas Körper war Beton. Schwer, kalt, reglos. Marmorne Glieder. Eisernes Herz. Nur das Zittern tief drinnen in der Bauchhöhle verriet ihr, dass sie noch lebte.
Sie war unfähig, die Augen zu öffnen. Doch sie atmete. Flach und ruhig, kaum wahrnehmbar. Und ihr Verstand, untergegangen in morastigen Strudeln, tauchte langsam wieder aus der Dunkelheit auf. War sie tot? Oder vollständig gelähmt und gleichzeitig erblindet? Eisige Kälte kroch von unten in ihren Körper. Vielleicht hatte sie Schierling getrunken oder war von etwas anderem vergiftet worden. Egal was es war, es hielt sogar die Panik in Schach. Der Verstand schien sich aus ihrem Körper zu erheben und sich über ihr auszubreiten wie eine Decke. Geist und Körper trennten sich. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Das Zittern in ihrem Bauch wurde schwächer. Also ein schlechtes Zeichen. Sie versuchte, sich zu bewegen, wenigstens die Lider eine Winzigkeit anzuheben – es war unmöglich. Sie verbot ihrem Verstand, auch nur ansatzweise an Panik zu denken. Panik war nur hilfreich, wenn man sich noch bewegen konnte.
Das Zittern erstarb. Der Atem setzte aus. Das war das Ende. Sie war tot. Bevor ihr Geist sich endgültig von ihrem Körper löste, befahl sie ihm, an ihren Vater zu denken. Sie sah sein Gesicht vor sich. Es war jünger, viel jünger. Er war auch größer als sie. Viel größer. Er weinte. Er presste sie an sich, er stammelte unverständliche Worte voller Liebe und Glück, und dabei schluchzte er. Schließlich hielt er sie, ihr Gesicht mit seinen Pranken liebevoll umklammert, eine Armlänge von sich weg und sah ihr in die Augen.
»Du darfst nie darüber sprechen. Verstehst du mich?«
Sie nickte. Damals hatte sie noch daran geglaubt, dass man Dämonen totschweigen konnte.
33
J eremy hinterließ eine zweite, kurze Nachricht auf dem Anrufbeantworter, die er am Montag noch löschen konnte, bevor Mieze ins Büro kommen würde. Sie besagte, dass er mit Cara übers Wochenende einen Besuch in Wendisch Bruch machen und danach mit ihr nach Berlin zurückkehren würde.
Er beendete die Verbindung und warf Cara einen kurzen Blick zu, die am Steuer ihres Wagens saß und ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen hatte. Charlies Tod war noch so nah. Trauer und Schmerz hatten Türen geöffnet, die die Zeit wieder schließen würde.
Sie waren schon eine gute halbe Stunde auf der A9 Richtung Berlin unterwegs. Cara fuhr schnell und sicher. Als das Schild mit der Ausfahrt Treuenbrietzen am Straßenrand erschien, verlangsamte sie das Tempo und setzte schließlich den Blinker. Am Rückspiegel klebte eine kleine Plakette. Ein alter Mann trug das Jesuskind.
»Der heilige Christophorus?«, fragte er.
Sie nickte konzentriert, weil sie gerade in die Ausfahrt einbog.
»Ich bin so katholisch wie ein ungetauftes Heidenkind. Das ist noch vom Vorbesitzer.«
»Ach so. Ich dachte …«
»Was? Bist du religiös?«
Jeremy dachte nach. »Ja.«
»Ich nicht. In meinem Job verliert das Göttliche irgendwann seinen Reiz. Man sieht, was die Natur vor sich hinreproduziert, und das war’s. Die Evolution ist auch nichts anderes als das Schleifen von Flusskieseln.«
Er nahm es ihr nicht ab. »Und die heilige Katharina?«
»Ah, die Nothelfer. Stimmt. Die sind ja immer zur Stelle, wenn es ganz eng wird. Ja, von denen habe ich schon gehört.« Ihre Ironie schlug Funken. »Und ihre Chefin ist die heilige Maria, die die Anträge auf Hilfe sofort an die richtige Stelle weiterleiten soll. Behörden. Der Himmel eine einzige, bürokratische Behörde und der Boss in Urlaub.«
»Wie kam Charlie an die Heilige?«
Sie überfuhr eine rote Ampel. Es hatte keine Konsequenzen, weil weit und breit kein weiteres Fahrzeug zu sehen war. Trotzdem verringerte sie das Gas.
»Du hast doch gesagt, ein
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