Das Dorf der Mörder
und Aussehen an die junge Jackie Onassis. Eine Frau, die selbst in Jeans und geknoteter Bluse kühle Erotik ausstrahlte.
»Das war unser Hof.« Sie wies auf die Ansammlung niedriger Stall- und Wirtschaftsgebäude.
»Was ist damit passiert?«
»Kurz nach dem Tod meines Vaters sollte er zwangsversteigert werden, aber es fand sich schon damals kein Interessent.«
»Also gehört er dir noch?«
»Nein. Und wenn, dann wäre er auf Charlie … egal. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Meine Güte, das ist so lange her. Ich will das nicht. Lass uns umkehren.«
»Nicht jetzt. Wir sind doch fast da.«
»Die kennen mich doch alle hier und wissen, was man Charlie vorgeworfen hat. Das Dorf der Mörderin, so hat die Presse Wendisch Bruch genannt. Ich glaube nicht, dass ich hier mit offenen Armen empfangen werde.«
»Darum geht es auch nicht. Wir machen einen Spaziergang, schauen uns alles an, und wenn du dich an etwas erinnerst, bin ich da. Den Rest sehen wir dann in Berlin weiter, wenn du mit Professor Brock sprichst.«
»Ist das wirklich nötig?«
Der Mut verließ sie. In Dessau hatte alles noch so einfach geklungen. Nach einem spielerischen Experiment, das jederzeit abgebrochen werden konnte. Nun wurde es ernst.
»Du schaffst das.«
»Natürlich schaffe ich das. Ich weiß nur nicht, worauf du hinauswillst.«
Jeremy betrachtete das stille, leere Dorf.
»Das weiß ich auch nicht. Noch nicht. Lass uns sehen, was passiert. Und ich bin bei dir.«
»Hm.«
»Ich bin vielleicht kein Professor. Aber ich merke, wenn es dir zu nahe geht. Dann brechen wir sofort ab.«
Sie stiegen wieder ein und fuhren los. Als sie den Aussiedlerhof passierten, erwartete er, dass Cara anhalten würde. Aber sie stoppte erst an der einsamen Kreuzung in der Mitte des Dorfes, um die sich die wenigen Häuser des Ortes versammelt hatten. Jeremy fiel auf, dass jedes zweite verlassen und aufgegeben schien.
»Exodus«, murmelte er.
Cara stellte den Motor ab und zog die Handbremse an. »Wir waren offenbar nicht die Einzigen, die die Flucht ergriffen haben. Meine Güte. Lebt hier überhaupt noch jemand? Ich habe diesem Flecken ja nie etwas Gutes gewünscht. Aber hier sieht es ja aus, als wäre eine Neutronenbombe eingeschlagen.«
Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Riechst du das?«, fragte sie nach einer Weile. »Du wolltest doch Erinnerungen. Das sind sie. Gemähtes Gras, Heu, Getreidestaub in der Luft. Trockene Erde. Einsame Sommer.«
»Sonst nichts?«
Sie dachte nach.
»Nichts.«
Sie verließen den Wagen. Cara sah sich um, deutete auf ein leeres niedriges Haus, das von wild wucherndem Gestrüpp fast zugewachsen war.
»Das war der Bäcker. Und dort«, sie deutete auf eine weitere Ruine, »war der Fleischer. Und da …«
Sie drehte sich um. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Das Haus war etwas größer als die anderen und war zu früheren Zeiten wohl so etwas wie der Dorfkrug gewesen. Auf der Hauswand waren noch verblichene Schriftzeichen zu lesen. Zur Linde, entzifferte Jeremy und bewunderte die hohen Eichen, die den Giebel weit überragten.
»Da hab ich ab und zu ein Eis gekriegt. Kratzeis von Walburga. Lass uns nachsehen. Vielleicht lebt sie ja noch.«
Jeremy wollte gerade fragen, was Kratzeis und ob Walburga eine DDR -Firma gewesen war, da trat eine korpulente Frau von vielleicht sechzig Jahren mit ergrautem, zerzaustem Haar, Kittelschürze und ausgetretenen Gesundheitsschuhen vor die Tür. Unter dem Arm trug sie einen Wäschekorb aus Plastik, darin offenbar Handtücher und zerknäulte Kleidung. Sie blieb stehen und sah überrascht auf die beiden Unbekannten, die sich ihrem Haus näherten. Sie setzte den Korb ab und kam vorsichtig die zwei Stufen herunter. Die Überraschung wich Ungläubigkeit.
»Nee. Nicht. Cara? Bist du das?«
Sie legte die Hand über die Augen. Das verschattete ihr Gesicht, sodass nicht mehr zu erkennen war, ob die Verwunderung in Freude oder Ablehnung überging. Cara tastete nach Jeremys Hand. Er spürte ihre Anspannung, die sich durch ihre Berührung übertrug wie durch eine Stromleitung.
»Walburga. Walburga, der Wal.«
Die Frau ließ die Hand sinken.
»Und immer noch frech wie Lumpi.«
Ein unsicheres Lächeln zerschnitt ihre Züge, die Jeremy an die Bauerngemälde von David Teniers oder Jan Brueghel erinnerten. Hartes, entbehrungsreiches Leben, die letzten Jahre vor dem Alter mehr Erschöpfung als innere Ruhe. Walburgas Schritte waren unsicher, die Beine, die den
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