Das Dorf der Mörder
ihn die Unruhe hinaus vor die Tür. Er umrundete die Kirche in Richtung Osten und sah von seiner Anhöhe aus die Obstwiesen und einen Teil des alten Gasthauses Zur Linde.
Cara war nirgendwo zu sehen. Er versuchte, sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber nach dem vierten Klingeln sprang nur ihre Mailbox an.
Unter einem Baum stand eine Bank. Er ging darauf zu und setzte sich. Jemand hatte vor langer Zeit ein Herz und zwei Buchstaben hineingeritzt. C und M.
Das hat mir Cara gar nicht erzählt, dachte er mit einem leisen Anflug von Eifersucht. Es hat noch jemanden gegeben in ihrem Leben. Jemand aus dem Dorf. Er strich über das Herz und stellte sich vor, wie zwei Teenager hier gesessen und sich die schwitzenden Hände gehalten hatten. Eigentlich war es ein schöner Ort hier oben. Vielleicht der schönste von Wendisch Bruch.
Als weitere fünfzehn Minuten vergangen waren und die einzige Bewegung, die er unten im Dorf ausmachen konnte, das sachte Wiegen von Walburgas Unterhosen auf der Leine war, wurde er unruhig. Vielleicht hatte sie ihre Verabredung vergessen? Da er bei seinem zweiten Versuch, sie telefonisch zu erreichen, auch keinen Erfolg hatte, schickte er ihr eine kurze SMS mit der Bitte, sich zu melden.
Er lief die Straße zurück. Ihr Auto stand immer noch vor Walburgas Haus. Doch das war nun verschlossen. Er klopfte an und versuchte es über den Hintereingang, aber auch dort stand er vor einer verrammelten Tür. Er rüttelte an der Klinke, trat zurück, rief, doch niemand reagierte. Dafür schlug in weiter Ferne ein Hund an. Ein zweiter fiel ein. Das Bellen setzte sich fort, vier oder fünf Hunde mussten es sein. Ein langgezogenes Heulen setzte ein. Es klang, als ob ein Rudel Wölfe den Mond ansang. Unheimlich. Gruselig. Jeremy schauderte. Die Hunde von Wendisch Bruch waren erwacht.
34
D er Anruf kam am Mittag und erwischte Gehring vor seinem Haus, als er gerade den Müll in die Tonne verfrachtet hatte. Es war einer der Kollegen von der Polizeiwache, der sich mit einem unmöglich zu merkenden Doppelnamen vorstellte und dann sofort zur Sache kam.
»Wir haben hier den Vater einer Kollegin, Tomislav Beara. Er sagt, seine Tochter wäre seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen und hätte sich gestern zum letzten Mal mit einer SMS gemeldet. Bei uns liegt auch nur eine telefonische Krankmeldung vor.«
Gehring klappte die Mülltonne zu.
»Ja?«, fragte er alarmiert.
»Herr Beara sagt, seine Tochter …« Der Mann brach ab, suchte nach Worten.
»Was sagt Herr Beara?«
»Sie, nun ja, sie hätte öfter von Ihnen gesprochen. Er wollte wissen, wie er Sie erreichen kann und ob …«
»Und ob was?«
»Sie … hm … vielleicht bei Ihnen wäre.«
»Sagen Sie ihm, sie ist nicht bei mir. Ich komme. Ich bin in zwanzig Minuten da.«
Er ging gar nicht mehr nach oben, sondern stieg gleich in seinen Wagen und erreichte die Sedanstraße dank des erträglichen Wochenendverkehrs sogar etwas früher. Er parkte im Hof und betrat die Wache durch den Hintereingang. Im nicht öffentlichen Bereich suchte er nach einer bestimmten Bürotür. Ein Mann mittleren Alters, dessen leidender Gesichtsausdruck entfernt an einen Seehund erinnerte, trat in den Flur und winkte ihn zu sich heran.
»Das ging ja schnell. Er wartet draußen.«
Draußen hatte man mit dem vermuteten Geschmack der breiten Mehrheit und der ostentativ zur Schau gestellten Armut der Berliner Behörden eine Art Warteraum eingerichtet, der neben einem Kaffeeautomaten auch einen Ständer mit Prospektmaterial (»Die Polizei empfiehlt …«) und mehrere unbequeme Stühle bot. Wegen Hässlichkeit oder Pensionierung ausrangierte Grünpflanzen dämmerten auf dem Fensterbrett einem qualvollen Tod entgegen, denn ab und zu erbarmte sich jemand und kippte den Rest seines Kaffees in die staubtrockene Erde, was das Leiden nur verlängerte.
Tomislav Beara war ein Mann Anfang sechzig, in dem für Amtsbesuche obligatorischen Sonntagsanzug mit Hemd und Krawatte, schlecht sitzend, aber sauber, und mit einem trockenen, kräftigen Händedruck. Sein kantiger Schädel und das Gesicht erinnerten Gehring an karstige Gebirgslandschaften. Tiefe Falten, hellwache braune Augen und ein freundliches, aber von Vorsicht gedämpftes Lächeln.
»Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring«, stellte er sich vor. »Sie sind der Vater von Frau Beara?«
»Ja.« Der Mann ließ mit einer geschickten Handbewegung einen schlichten Rosenkranz aus Holz in seiner Hosentasche verschwinden. »Ich will wissen, wo meine
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