Das Dorf der Mörder
wieder an seinen Besucher.
»Herr Beara, wir tun alles, um einer Kollegin, die in Schwierigkeiten geraten ist, zu helfen. Wir werden Ihre Vermisstenanzeige aufnehmen, und ich werde die Polizeidienststelle in Jüterbog informieren. Ich teile Ihre Sorge, und ich werde mich persönlich darum kümmern. Das verspreche ich Ihnen.«
Beara nickte und stand auf. Gehring begleitete ihn noch bis zur Tür.
»Was meinen Sie damit, sie will immer gewinnen?«
Der alte Mann berührte Gehring am Arm und drückte ihn. »Sie kümmern sich?«
»Ja.«
»Sie hat einmal verloren. Da war sie noch ein Kind. Sie glaubt, ihr Leben ist nur geborgt. Sie glaubt, sie muss alles erkämpfen. Nie verlieren. Sie hat kein Maß, sie kann nicht aufgeben. Das macht mir Angst.«
»Gott hat uns allen das Leben nur geborgt.«
Der Vater nickte. »Ja. Aber sie, sie hat es sich nicht von Gott geliehen.«
Gehring öffnete die Tür. Der Mann schlüpfte behände hindurch, noch bevor der Kommissar fragen konnte, wer denn, außer dem Allmächtigen, sonst noch so mit Leben aushalf.
»Soll ich Sie …« Er wollte fragen, ob er ihn noch hinausbegleiten sollte. Im Flur, schwitzend, außer Atem, mit hochrotem Gesicht, stand Gerlinde Schwab. Er war so verblüfft, sie zu sehen, dass er sich noch nicht einmal von Tomislav Beara verabschiedete. »Wollten Sie zu mir?«
Sie nickte. Beara war schon fast am Treppenhaus, er würde den Weg finden. Gehring bat sie mit einer Handbewegung herein.
»Was gibt es?« Es war so außergewöhnlich, sie außerhalb der Dienstzeiten vor sich zu sehen, dass er sie gar nicht erst darauf ansprach.
Sie zeigte ihm einen vollgekritzelten Notizblock. »Ich habe bis abends am Telefon gesessen. Eigentlich wollte ich damit erst am Montag zu Ihnen. Aber als ich heute Morgen aufgewacht bin, dachte ich mir … Ich muss das alles nochmal durchgehen, bevor ich … also … und da sah ich Sie über den Hof kommen, und ich glaube, also, es kann nicht warten.«
»Was?«, fragte er. Die Schwab war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Ihre Nervosität war genauso ungewohnt wie ihr plötzlicher Arbeitseifer. »Was kann nicht warten?«
»Ihr Einsatz in Wendisch Bruch.«
35
B eim zweiten Erwachen konnte sie die Augenlider bewegen, aber sie war blind. Die Finsternis war endgültig und undurchdringlich, mit geschlossenen wie mit geöffneten Augen. Sie versuchte, ihre Finger zu beugen und zu strecken – es gelang. Die Lähmung schien nachzulassen, und sie holte tief Luft.
Fehler.
Es roch nicht, es stank nach Exkrementen. Der Boden war feucht, modrig, war glattgetretene Erde vielleicht oder Schlamm, den der Regen durch die Ritzen spülte. Sanela versuchte, sich aufzusetzen, und stieß mit dem Kopf an die Decke. Ein Sarg, schoss es ihr durch den Kopf. Im gleichen Moment zuckte ein Schmerz durch ihren Körper, wie sie ihn noch nie empfunden hatte. Entweder war ihr Rückgrat gebrochen, oder jemand hatte einen glühenden Nagel in ihre Wirbelsäule gejagt. Sie zog die Luft durch die Zähne ein, um nicht laut aufzuschreien. Du bist tot, dachte sie. Auch wenn du wieder atmen und dich bewegen kannst. Du liegst in einem Sarg in deiner eigenen Pisse. Sie haben dich lebendig begraben. Panik saß in ihr wie ein gefangener Vogel, bereit, die Flügel auszubreiten.
Atmen. Atmen und zählen. Dann wird es gehen.
Sie streckte die Arme aus und wunderte sich, dass es ihr gelang. Also kein Sarg. Dann wartete sie, bis die nächste Schmerzwelle abgeflaut war, und tastete mit den Fingerspitzen über den feuchten Boden. Welcher Raum hatte eine Deckenhöhe von kaum einem Meter? Sie drehte sich mühsam um und betastete ihren Hinterkopf. Eine warme und klebrige Flüssigkeit blieb an ihrer Hand kleben. Blut. In gebückter Haltung, voller Vorsicht, damit sie sich nicht noch einmal den Kopf anstieß, kroch sie durch den Dreck, bis sie an eine Mauer kam. Der Gestank raubte ihr fast den Verstand. Ammoniak. Ihre Augen tränten, der Hustenreiz war nicht mehr zu unterdrücken. Sie zog ihr Hemd hoch und presste es sich vor die Nase. Der Anfall wollte kein Ende nehmen, ihr Kopf wollte explodieren. Sie musste sich zwingen, mit dem Husten aufzuhören. Nach Luft ringend krümmte sie sich zusammen, legte die Stirn auf den Boden. Atmen und zählen. Atmen und zählen. Noch leuchteten die Ziffern ihrer billigen Armbanduhr. Zehn nach zwei. Mittags oder nachts? Sie versuchte sich daran zu erinnern, was geschehen war, aber das letzte Bild, das ihr Hirn ihr lieferte, war blutrote
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