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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Seite?«
    »Keiner. Aber da war es auch vorbei.«
    »Was war vorbei?«
    Ihre Unterlippe zitterte, alles Blut schien aus ihrem Gesicht gewichen. Sie erinnerte Jeremy an den Rohling einer venezianischen Maske. Starre Züge, tiefdunkle Augen.
    »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Dieses Zimmer ist viel kleiner. In meiner Erinnerung war es riesig, vor allem nachts. Da wurden die Schatten lebendig. Ich hatte Angst. Schreckliche Angst. Immer wenn Bruno da war, wusste ich …«
    Sie brach ab.
    »Warum war Bruno da?«
    »Weil er meine Angst gespürt hat.«
    »Welche Angst? Vor den anderen Hunden?«
    Ihr Blick floh an Jeremy vorbei und suchte den Ausgang. Er stellte sich ihr in den Weg und zwang sie, ihn anzusehen.
    »Nein«, stammelte sie verwirrt. »Nein, keine Hunde. Ich liebe Hunde.«
    »Dann vor Kindern? Anderen Kindern? Kleinen Kindern?«
    Sie biss sich in den Handrücken, wandte sich ab und ging zum Fenster. Jeremy folgte ihr.
    »Sag es.«
    »Ich traue mich nicht. Du hältst mich für verrückt, wenn ich das sage. Mir geht es doch genauso. Neulich, als ich diesen Aussetzer hatte – ich dachte, ich hätte es unter Kontrolle. Ich gehe nicht in Restaurants, nicht ins Kino, nicht in den Park. Wenn ich an Schulen vorbeifahre, schließe ich die Autofenster. Ich wechsle die Straßenseite, wenn sie mir entgegenkommen.«
    »Wer? Cara, wer?«
    »Frauen mit Kinderwagen. Frauen mit Babys.« Sie umklammerte seine Arme. Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. »Das ist doch nicht normal, oder? Sag es mir ins Gesicht! Du bist doch Psychologe. Du kennst dich doch aus mit solchen irrsinnigen Dingen. Wenn sie schreien, habe ich das Gefühl, tot umzufallen. Ich ersticke. Mein Puls rast. Alles in mir will weg.«
    »Das sind Panikattacken. Hat es hier angefangen?«
    »Vielleicht. Ich habe es vergessen oder verdrängt. Jetzt weiß ich wieder, dass ich merkwürdige Träume hatte. Von … von Babys. Sie kamen nachts ins Zimmer, glaube ich. Ich habe sie gehört. Sie waren da.«
    Sie stöhnte auf.
    »Du hältst mich für verrückt, ja? Tust du das?«
    »Nein.«
    »Lüg nicht!«
    »Cara. Wärst du verrückt, würdest du sie sehen. Oder mit ihnen sprechen. So hast du einfach nur Angst.«
    »Nur Angst«, wiederholte sie mit einem schwachen Lächeln. »Manchmal glaube ich, ihr habt so wenig Ahnung von der Psyche anderer Menschen wie ich von dem Schwein, das ich kastriere.«
    »Erzähl.« Seine Stimme war rau und brüchig. Vielleicht von dem trockenen Staub, den er in Wendisch Bruch einatmete. Vielleicht, weil er dieses Gespräch viel lieber in der Praxis geführt hätte. Vielleicht, weil er zum ersten Mal in seinem Berufsleben Verantwortung trug. »Erzähl mir von den Babys.«
    »Du wirst mich nicht auslachen?«
    »Nein.« Er legte vorsichtig seine Arme um sie. Sie ließ es geschehen. Sie schloss die Augen. Es war, als ob die Einfahrt in einen Tunnel verschwand.
    »Es ist schwierig, das in Worte zu fassen. Ich kann mich kaum erinnern. Ich war ein Kind. Es geschah nachts. Nachts, wenn alles schläft, konnte ich sie hören. Sie … sie haben Hunger und schreien. Leise, ganz weit weg. Ich will Charlie wecken, aber sie ist wach. Komisch, sie hat ihre Sachen an … sie ist nass … wir sitzen zusammen auf ihrem Bett und halten uns fest. Charlie weint. Ich weiß nicht, warum, aber sie weint. Irgendwann steht sie auf und geht.«
    »Wohin?«
    »Nach unten, glaube ich. In den Keller. Oder raus. Wenn sie zurückkommt, riecht sie anders. Nach Stall und Kartoffeln. Nach Wolle und Erde und nach …«
    »Nach was?«
    »Nach Blut. Sie wäscht sich. Ich tue so, als ob ich schlafe. Sie legt sich ins Bett. Alles ist gut.«
    »Was ist gut?«
    Cara öffnete die Augen und sah ihn an. »Alles. Es ist ruhig, auch die Hunde haben aufgehört zu bellen. Die ganze Nacht war es so, als ob sie eine Nachricht weitertragen würden. Doch wenn Charlie zurückkommt, ist alles vorbei.«
    Sie lächelte, und Jeremys Herz war nahe daran zu zerspringen.
    »Und wo war Bruno?«
    »Bruno?«, wiederholte sie verwirrt. »Der war dann wieder weg. Oder? Ich weiß nicht … vielleicht habe ich auch was durcheinandergebracht.«
    »Hast du niemals darüber nachgedacht, was das bedeuten könnte?«
    »Ich hielt es für einen Traum.«
    »Wie oft hattest du ihn?«
    »So real? Zwei, drei Mal, glaube ich. Ich hatte auch andere Alpträume. Als Charlie mit ihren Dummheiten anfing. Das war wirklich furchtbar, weil ich sie jedes Mal tot gesehen habe.«
    »Wie alt wart ihr damals, als es

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