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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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von fünf Balken. Er wählte ihre Nummer und wartete.
    Von weit her, aus dem Haus, klangen die dudelnden Digitaltöne, die man immer noch als Klingeln bezeichnete. Als Caras Mailbox ansprang, stoppte die Musik. Jeremy, völlig perplex, unterbrach die Verbindung und versuchte es erneut.
    Die einfältigen Töne geisterten durch die zerbrochenen Fenster nach draußen. Nach zwanzig Sekunden war der Spuk vorbei. Er trat aus dem gleißenden Sonnenlicht hinein in einen dunklen, muffig riechenden Flur.
    Das Haus war größer, als es von außen den Anschein erweckt hatte. Als Jeremys Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er Steinfliesen auf dem Boden und eine Tapete, die sich zum Teil von den Wänden gelöst hatte oder abgerissen worden war. Halbe Bahnen hingen wie ein Theatervorhang herab. Er schob eine zur Seite und sah am Ende des Flurs eine breite Holztreppe, die in die oberen Geschosse führen musste. Die Türen zu den unteren Räumen waren, bis auf eine, entfernt worden. Alte, zum Teil gesprungene Fliesen in einem kränklichen Gelbton klebten noch an den Wänden, fast wäre er über einen Rest Linoleum gestolpert, der sich vom Boden löste.
    Eine Abbruchruine, Spielplatz für Kinder, Schlafstatt für Obdachlose. Er ging auf die Treppe zu und warf dabei einen flüchtigen Blick in die offenen Räume. Einer, der größere, war vermutlich das Wohnzimmer gewesen. Der zweite vielleicht ein Elternschlafzimmer. In ihm lag eine aufgequollene, von undefinierbaren Flecken übersäte alte Matratze. Vor dem Fenster hing eine löchrige Decke, Müll, leere Verpackungen und andere Hinterlassenschaften – Lumpen? Alte Gardinen? – lagen überall verstreut herum. Aufgegeben, vergessen, sich selbst überlassen.
    Am Fuß der Treppe blieb er stehen und rief noch einmal, bekam aber keine Antwort. Er spürte, wie unbehaglich ihm in diesem aufgegebenen Haus zumute war. Zum einen, weil es so offensichtlich verwahrloste, zum anderen, weil seine letzten Bewohner nicht zu den zivilisiertesten Menschen zu gehören schienen. Er war ein Eindringling. Jemand aus einer anderen Welt, von draußen, der störte.
    Er wurde leiser, vorsichtiger. Er drückte auf die Wahlwiederholung. Die Musik hallte durch das Treppenhaus. Jeremy vermutete, dass sie aus dem Dachgeschoss kam. Nach drei Takten legte er auf. Er wollte ihren Namen rufen, zu ihr stürmen, aber er zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Sie antwortete nicht, aber ihr Handy war in der Nähe. Es gab mehrere Erklärungen dafür, und keine gefiel ihm.
    Vorsichtig betrat er die Treppe. Sie war massiv, aus dicken getischlerten Bohlen. Er überlegte, wann dieses Haus gebaut worden war. In den fünfziger Jahren, schätzte er. Funktional, stabil, belastbar. Kein Stuck, keine Verzierungen, nichts, was über den reinen Zweck der Behausung hinausging. Das Geländer war ein Lauf aus Holz, mit schwarzen Winkeleisen an der Wand befestigt. Er passierte eine weitere heruntergerissene Tapetenbahn, und ihm schien, als ob sich im ersten Stock der Vandalismus etwas verlieren würde. Die Treppe mündete in einen weiteren Flur, der schmaler geschnitten war als der im Erdgeschoss. Jeremy zählte vier Türen, die weit geöffnet waren. Ein leichter Luftzug verdrängte den muffigen Geruch, der unten geherrscht hatte, es war trockener, heller, aber nicht freundlicher.
    So leise wie möglich schlich Jeremy über Glasscherben und abgebröckelten Putz von Zimmer zu Zimmer. Eine Tür quietschte, als er sie aus Versehen berührte. Das Geräusch erschien seinen Ohren so laut, so warnend, dass er zusammenzuckte und stehen blieb. Nichts regte sich. Die leeren Räume mit ihren altmodischen, schlecht verklebten Tapeten waren unbenutzt. Offenbar hatten die lichtscheuen Bewohner des Hauses nur das Erdgeschoss okkupiert.
    »Cara?«, rief er leise und bekam keine Antwort.
    Er kehrte zur Treppe zurück und machte sich an den Aufstieg ins Dachgeschoss. Die Stufen knarrten und würden sein Kommen verraten. Er hatte keine Waffe bei sich, nur sein Handy. Sollte er Brock anrufen? Oder die Polizei? Er verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Es würde nicht viel bringen. Sich von Brock den Kopf abreißen lassen konnte er auch noch, wenn sie wieder in Berlin waren.
    Dunkle Tropfen verunzierten die letzten Stufen. Erst glaubte er, jemand hätte versucht zu renovieren und dabei Farbe verschüttet. Dann breiteten sich die Flecken und Schlieren aus zu einer blutroten, halb getrockneten Lache. Schleifspuren führten über

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