Das Dorf der Mörder
begann?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Acht, neun Jahre? Und Charlie zwölf, dreizehn? Ich weiß, was du denkst. Aber es ist nicht wahr. Ich wurde nicht vergewaltigt, auch nicht missbraucht. Ich war vielleicht auf einem anderen Stern und habe manche Dinge nicht mitbekommen, und Aufklärung hieß bei uns, die Bullen zu den Kühen zu bringen und dabei zuzusehen. Aber ich bin als Jungfrau in die Ehe. Und Charlie … sie hatte mal einen Verehrer, aber daraus ist nichts geworden.«
Er dachte an das Herz in der Bank. Nicht Cara, sondern Charlie hatte dort gesessen und von etwas geträumt, das man Leben nennen könnte.
»Warum nicht?«
Sie zuckte unsicher mit den Schultern. »Mein Vater. Wahrscheinlich hat er ihn vergrault. Charlie ist dann abgehauen, mehrmals. Manchmal nur für eine Nacht, manchmal länger. Mit fünfzehn, als meine Mutter starb, war sie schon kräftig genug, um ihm Paroli zu bieten. Er hat ihr dann zwar nichts mehr verboten, aber welcher Junge will schon auf so einen Hof.«
»Was war denn mit diesem Hof?«
Cara verschränkte die Hände ineinander und sah zu Boden.
»Ich weiß es nicht. Ich bin hier und denke zum ersten Mal seit Jahren wieder an meine Kindheit. Ich habe sie weggelegt, so wie man ein Paar alte Socken in eine Schublade wirft. Seit ich dieses Haus betreten habe, zittert mein Herz. Dabei sind das leere Mauern. Aber es hat sich etwas in ihnen ereignet. Meine Eltern waren der Horror. Ich kann sie wieder hören, wie sie sich anschreien, wie er sie schlägt, ewig Streit, Türenschlagen, Stimmen, Geschrei, Stöhnen, Heulen, Prügel, Männer … all das.«
»Welche Männer?«, fragte Jeremy. »Eben hast du noch gesagt …«
Sie löste sich sanft aus Jeremys Griff und wollte hinüber zu dem toten Hund. Er hielt sie fest.
»Männer? Habe ich Männer erwähnt?«
»Ja, das hast du.«
»Das ist ein Bauernhof. Kein Kloster. Wahrscheinlich waren auch ab und zu mal Männer hier. Was willst du mir eigentlich einreden?«
»Gar nichts. Gerade hast du erzählt, dass euer Vater jeden Jungen vom Hof gejagt hat, der sich euch genähert hat. Und dann kommst du selber auf Männer.«
Sie riss sich los, ging zu Bruno dem Dritten und berührte seinen schweren Schädel mit unendlicher Zärtlichkeit.
»Er war immer da. Und jetzt ist er tot. Wen wollte er beschützen? Er liegt doch bestimmt schon seit gestern hier. Es ist etwas passiert. Hier, in diesem Haus.«
»Du musst weg. Wir fahren sofort nach Berlin.«
»Ich bin dir zu anstrengend, stimmt’s?« Sie sah kaum auf, sondern strich Bruno, dem Verwesenden, immer noch über den gewaltigen Schädel.
»Nein. Ich will hier raus. So schnell wie möglich.«
»Aber du hast mich doch hergebracht. Du wolltest doch, dass ich mich erinnere. Und jetzt, wo ich die Büchse der Pandora nur eine Winzigkeit geöffnet habe, schreckst du zurück.«
»Okay.« Er nickte. »Lass uns darüber reden. Auf dem Weg nach Berlin. Ich brauche Professor Brock. Ich fürchte, ich bin der Sache alleine nicht gewachsen. Dieser Hund wurde von jemandem getötet. Man hat ihm die Kehle aufgeschlitzt. Und ich möchte diesem Menschen nicht begegnen.«
Cara achtete gar nicht auf ihn. Sie betrachtete den letzten aus der Reihe der toten Wächter ihrer Kindheit.
»Wen wollte er schützen? – Wir müssen ihn begraben.«
Jeremy, in Gedanken auf dem Weg zu ihrem Auto und schon halb durch die Tür, drehte sich abrupt zu ihr um.
»Das geht jetzt nicht.«
»Ich kann ihn nicht hier liegen lassen. Wir müssen ihn zu Walburga bringen und dort in ihrem Garten vergraben. Unter einem Apfelbaum. So haben wir es mit allen gemacht.«
»Mit allen was?«, fragte er irritiert.
»Mit allen Hunden. Sie sind unsere Freunde und Beschützer. Und wir tun es nicht für sie, sondern für uns.« Sie stand auf und wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab. Der verständnislose Ausdruck in Jeremys Gesicht irritierte sie.
»Was einem etwas bedeutet, das wirft man doch nicht einfach so weg, wenn es ausgedient hat. Oder? Wir nehmen Abschied. Wir sorgen für ein Ritual. Wir opfern etwas, legen es ins Grab. Blumen, ein Spielzeug, den Ball, mit dem er so gerne gespielt hat. Nicht weil wir glauben, er könnte noch etwas damit anfangen. Sondern weil es das ist, was uns von den Tieren unterscheidet. Dass wir Dinge tun, die in der Natur nicht nötig sind. Aber im Leben der Menschen schon. Du hast noch nicht viele Tote begraben.«
»Nein.«
Er trat auf sie zu und nahm ihr schmutziges, tränennasses Gesicht
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