Das Dorf der Mörder
so nett sein könnten, Platz zu nehmen und mich nicht zu stören?«
Mieze kannte das. Sie nahm sich eine Illustrierte aus dem Wartezimmer nebenan, ließ sich in dem Sessel neben dem Fenster nieder und begann zu lesen.
Nach einer Viertelstunde gab Brock einen Laut des Erstaunens von sich. Mieze blickte kurz hoch, erkannte dann aber, dass er noch nicht so weit war, und vertiefte sich wieder in die Titelgeschichte.
»Schwestern«, sagte Brock nach einer Weile.
Mieze ließ das Blatt sinken.
»Ich habe keine Schwestern mehr.«
Sie schwieg. Jeder Kommentar konnte Brock ablenken. Der Professor stand auf, umrundete den Schreibtisch und lehnte sich an dessen Vorderkante.
»Was heißt das?«
Mieze schlug das Heft zu. »Ich habe keine Schwestern mehr?«
Brock nickte.
»Dass ich mal welche hatte?«
»Cara und Charlie.« Er beugte sich zurück und angelte nach der Akte im Ablagekorb. Er schlug sie auf und deutete mit dem Zeigefinger auf eine Seite. »Zwei Mädchen. Wenn die eine sich von der anderen lossagt, was würde sie dann gegebenenfalls konstatieren?«
»Ich habe keine Schwester mehr?«
»Genau. Singular. Nicht Plural.«
»Wer hat das gesagt?«
»Charlotte Rubin zu Cara Spornitz. Schwestern. Mehrzahl. Was heißt das?«
»Vielleicht hatten sie noch mehr Geschwister.«
»In den Akten steht nichts davon. Cara und Charlie waren die einzigen Kinder von Margot Rubin.«
»Hat man denn einen Registerauszug beim Standesamt angefordert?«
Brock blätterte weiter. »Ich gehe davon aus. Sie meinen, Margot Rubin könnte Kinder zur Adoption freigegeben haben?«
»Oder Charlie und Cara wurden adoptiert?«
»Nein«, brummte Brock. »Dann gäbe es hier noch so etwas wie eine Abstammungsurkunde. Sie waren die einzigen Kinder. Definitiv.«
»Ja, dann weiß ich auch nicht weiter. Geschwister verschwinden ja nicht so einfach. Oder?«
Brock klappte die Akte zu und sah Mieze lange an.
»Eigentlich nicht.«
»Herr Professor, meinen Sie nicht, die Polizei sollte sich darum kümmern? Wenn die beiden Frauen noch mehr Angehörige hatten – Brüder, Schwestern, die jetzt nicht mehr da sind … nach denen fragen Sie doch, oder?«
»Abtreibung?«
»Nein. Dann weiß man doch das Geschlecht nicht. Aber vielleicht wurden sie ausgesetzt? So was hat es doch schon immer gegeben. Überforderte Eltern oder Mütter, die ihre Schwangerschaft verdrängen. Das könnte ich mir durchaus vorstellen. Nur – die meisten Mütter verheimlichen das doch vor ihren Kindern.«
»Ja. Natürlich. Die meisten tun das.«
Brock ließ Mieze endlich gehen und versuchte noch einmal, Kriminalhauptkommissar Gehring zu erreichen. Er sei außer Haus, wurde ihm gesagt, aber er könne gerne eine Nachricht hinterlassen.
»Findelkinder«, sagte Brock.
Der Beamte am anderen Ende der Leitung wusste damit nicht allzu viel anzufangen.
»Mehr nicht?«
»Herr Gehring müsste herausfinden, ob Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre rund um Wendisch Bruch Kinder ausgesetzt worden sind. Neugeborene. Darüber gibt es doch bestimmt noch Register.«
»Ja, bestimmt. Können Sie mir nähere Angaben zum Sachverhalt machen?«
Verwirrt strich sich Brock durch die Haare. »Nein, leider nicht. Nur die: Ich habe keine Schwestern mehr, schreiben Sie das bitte noch auf.«
»Das tut mir sehr leid, Herr Brock. Möchten Sie eine Vermisstenanzeige aufgeben?«
»Nein. Schreiben Sie einfach auf, Charlotte Rubin hat gesagt: Ich habe keine Schwestern mehr. Das reicht.«
Er legte auf. Reichte das wirklich? Würde Gehring verstehen? Und was bedeutete das letzten Endes? Wenn er Charlies Worte ernst nahm – und er nahm sie bitterernst –, dann waren in dieser Familie mehr Kinder geboren als registriert worden.
Es klopfte. Wütend über die Störung bellte er: »Was ist?«
Mieze, die Handtasche am Arm, das Seidentuch wieder korrekt verknotet, erschien noch einmal in der Tür.
»Verzeihung, Herr Professor. Mir lässt da etwas keine Ruhe.« Zögernd trat sie ein. »Diese Geschwister … Sie denken automatisch an die Mutter, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Brock zerstreut.
»Was ist mit dem Vater? Es gibt Kinder, die in keinem Geburtenregister mit ihren richtigen Namen auftauchen. Dann nämlich, wenn sie jemandem untergeschoben worden sind. Kuckuckskinder. Uneheliche Kinder.«
»Möglich, möglich. Danke, Mieze. Ich werde das dem Kriminalkommissar sagen.«
»Oder Kinder, die jemand in die Ehe mit hineingebracht hat. Stiefkinder. Neue Kinder in neuen Familien. Dieses ganze
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