Das Dorf der Mörder
Meter weiter, erkannte eine halb offen stehende Tür an der Seite des Gebäudes – der Vordereingang sah aus, als wäre er seit Jahrzehnten nicht betreten worden – und einige Nebengebäude. Geräteschuppen, Garagen vielleicht. Er stieg aus, ging auf das Haus zu und fand keine Klingel.
»Hallo?« Vorsichtig tippte er an die Tür. Mit einem Laut, der an eine Art merkwürdiges Gähnen erinnerte, ging sie auf.
»Ist da jemand?«
Vor ihm lag ein dunkler Flur. Aus einem Raum zur Linken hörte er ein klirrendes Geräusch.
»Polizei. Hallo? Ich komme jetzt zu Ihnen.«
Er betrat den Flur, legte die Hand an seine Waffe unter der Jacke und sah vorsichtig um die Ecke. Am Tisch saß eine Frau. Alt, verschwitzt und dick. Sie erinnerte ihn vage daran, wie Frau Schwab eines Tages aussehen würde, wenn sie nicht aufpasste. Er ließ die Hand sinken.
»Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring, Mordkommis sion.«
Wenn er erwartet hatte, dass die Frau, wie so viele vor ihr, nervös werden würde, so hatte er sich getäuscht. Sie hob müde den Kopf und sah ihn mit einem Ausdruck großer Erschöpfung an.
»Haben Sie mich verstanden? Mordkommission, Berlin. Darf ich eintreten?«
»Warum fragen Sie eigentlich?«
Ihr Blick war ruhig, ihre Stimme auch. Er trat in den Raum, eine einfache, ländlich robuste Küche. Sie war gerade noch aufgeräumt genug, um nicht verwahrlost zu wirken.
»Ich suche eine Kollegin. Sanela Beara. War sie bei Ihnen?«
»Wie war nochmal der Name?«
»Beara.«
»Kenn ich nicht. Tut mir leid. Ich würde mich bestimmt erinnern. Hier kommen nicht sehr viele Leute her. Schon lange nicht mehr.«
»Wer sind Sie?«
»Muss ich das sagen? Zeigen Sie mir doch mal Ihren Ausweis.«
Gehring zückte die Karte, die Frau studierte sie mit jenem falschen Interesse, mit dem Analphabeten so taten, als ob sie ein X von einem U unterscheiden könnten. Schließlich reichte sie ihn zurück.
»Walburga Wahl.«
Gehring zog einen Stuhl weg vom Tisch und setzte sich ungefragt.
»Frau Wahl, wo ist Ihr Mann?«
»Zigaretten holen.«
Er lehnte sich zurück und atmete tief durch. Sie wollte spielen. Gut, das konnte sie haben.
»Seit wann?«
»Ich hab nicht auf die Uhr geschaut. Hat er was ausgefressen?«
»Ich will mit ihm reden.«
»Ich werd’s ihm ausrichten.«
Er beugte sich vor. »Frau Wahl, ich bin nicht aus Berlin in Ihr hübsches kleines Dorf gekommen, um mich von Ihnen auf den Arm nehmen zu lassen. Ich ermittle in einem Mord.«
»Rubin? Jetzt nehmen Sie mich auf den Arm. Charlie hat sich umgebracht. Der Fall ist erledigt.«
»Nicht für mich. Und für Frau Beara auch nicht. Und für eine ganze Menge anderer Leute aus diesem Ort scheint er auch von Relevanz zu sein. Also, wo finde ich Ihren Mann?«
Sie verschränkte die nackten Arme vor ihrem ausladenden Busen.
»Ich bin nicht meines Mannes Hüter. Suchen Sie ihn.«
»Okay.« Er stand auf. »Das werde ich.«
Wütend stapfte Gehring aus dem Haus. Er versuchte, Gerlinde Schwab zu erreichen, doch sie hatte ihr Handy abgeschaltet und war auch nicht an ihrem Platz. Er schickte ihr eine SMS : Personenstandsabfrage Erich und Walburga Wahl. Vor seinem Auto blieb er stehen und sah sich in der glühenden Nachmittagshitze noch einmal um. Er hatte das Gefühl, dass er beob achtet wurde. Der Blick stach geradezu in seinen Rücken. Langsam drehte er sich um, musterte noch einmal das Haus, die Fassade, den Garten, die Wäscheleine. Und da sah er es. Ein T-Shirt mit der Aufschrift Forty Licks .
41
B rock hatte Mieze schon vor einer halben Stunde ins Büro bestellt und traf gerade noch rechtzeitig ein, bevor sie ging. Sie wohnte um die Ecke, dennoch hatte er ein schlechtes Gefühl, sie am Wochenende ins Büro zu bestellen und sie dann auch noch warten zu lassen. Aber sie achtete gar nicht auf seine Entschuldigung.
»Was ist denn los, Herr Professor?«
Sie stellte ihre Handtasche wieder auf dem kleinen Tisch vor der Garderobe ab und streifte sich das Seidentuch vom Hals.
»Das Protokoll, das Sie mir vom Diktaphon abgetippt haben. Wo ist das?«
»Im Computer.«
»Ich brauche es noch einmal. In voller Länge. Könnten Sie so nett sein und es mir ausdrucken?«
»Aber selbstverständlich. Eine Minute, es dauert etwas, bis er hochgefahren ist.«
Brock ging in sein Büro. Wenig später kam Mieze mit den Ausdrucken und einem kräftigen Darjeeling.
»Haben Sie noch einen Moment Zeit?«, fragte er, nachdem sie die Tasse abgestellt und er sich bedankt hatte.
»Ja.«
»Wenn Sie
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