Das Dorf der Mörder
Büro bequemt und sich dann die Zusammenfassung der unwahrscheinlichsten Mordserie des noch jungen Jahrhunderts in aller Ausführlichkeit hatte darlegen lassen, um sie anschließend wieder nach Hause zu schicken. Wenigstens hätte sie sich zwischendurch melden können. Er war allein. Allein in einem Dorf, in dem eine Kollegin verschwunden war und in dem sich eine Reihe ungeklärter Vorfälle ereignet hatte. Der Anblick des Fliegenfängers irritierte ihn. Er bevorzugte eine zusammengefaltete Zeitung.
»Er ist weggegangen, als ein Päckchen Zigaretten noch zwei Mark kostete. Das hat Frau Beara mir noch mitteilen können. Und das ist nicht das Einzige, was ich von ihr erfahren habe.«
»Was denn noch?«
»Das möchte ich gerne von Ihnen wissen. Es würde Ihnen vor Gericht helfen, wenn Sie kooperieren.«
Sie atmete heftiger. Ihr gewaltiger Busen hob und senkte sich. »Ich habe nichts Unrechtes getan. Im Gegenteil. Ich habe Ihrer Kollegin sogar das Bett bezogen. Wir haben zusammen gekocht und gegessen, sie ist eine sehr sympathische Frau.«
Lüg du nur, dachte Gehring. Sympathisch ist das letzte Attribut, das einem beim Gedanken an Beara in den Sinn kommt.
»Und dann?«
»Fragen Sie doch Esther. Mit der hat sie auch gesprochen, in der Kirche.«
»Wer ist Esther?«
»Die Dorfälteste. Sie wohnt schräg gegenüber.«
»Ist das auch eine Frau ohne Mann?«
»Herrgott!« Sie wollte mit der Hand auf den Tisch schlagen, hielt sich aber in letzter Sekunde zurück. »Muss man sich jetzt auch noch wegen seiner Lebensweise rechtfertigen?«
»Nur, wenn diese Lebensweise auf Kosten anderer geht.«
Sein Handy vibrierte. Endlich. Er sprang auf und ging hinaus in den Flur, um die Nachricht zu lesen. Schwab.
Rütter will Beweise. Personenstandsabfrage Wahl, Walburga: verheiratet mit Erich seit 1975. Ein Sohn, Marten, *1977. Anruf Prof. Brock. Thema Ich habe keine Schwestern mehr (O-Ton Rubin) RR dringend.
Gehring klappte das Handy zu. Mit Brock, dem etwas verwirrt klingenden Professor, konnte er im Moment nichts anfangen. Aber mit Marten Wahl. Der Name war weder auf der Liste der Auswanderer noch auf der der Vermissten aufgetaucht. Er kehrte zu Walburga zurück. Sie blickte ihn so hoffnungsvoll aus ihren kleinen Augen an, dass er beinahe Mitgefühl mit ihr bekam.
»Frau Wahl. Wo ist Ihr Sohn?«
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J eremy?«
Ein Flüstern, dünn wie Cellophanpapier.
»Kannst du mich hören?«
Er verstand die Worte nicht. Nur die Kühle spürte Jeremy an der Stirn. Er lag mit dem Kopf auf einem Steinfußboden, unfähig, sich zu rühren. Noch nicht einmal die Augen konnte er öffnen. Der erste Sinn, der zu ihm zurückkehrte, war das Fühlen. Kälte. Dunkelheit. Nacht? Der zweite war das Riechen. Ein Hauch von gebratenem Speck. Der dritte das Hören.
»Wenn du mich hörst, gib mir ein Zeichen. Bitte. Tu was!«
Er war unfähig, sich zu bewegen. Dann spürte er, wie jemand sich über ihn beugte und ein warmer Atem sein Gesicht streifte.
»Wach auf!«
Cara. Der Name schoss wie ein Pfeil in sein Herz und ließ es schneller schlagen. »Gottverdammte Scheiße.«
Mit diesem Fluch entfernte sich ihre Stimme wieder. Geh nicht weg, wollte er denken, aber weiter als über das erste Wort kam er nicht hinaus. Der Rest blieb Gefühl. Bleib … halt …verlass … was ist … was ist passiert?
»Ich glaube, er kommt zurück.« Ein Geräusch, als ob ein Stuhl verrückt und Stoff über eine Feile gezogen würde. »Ich krieg diese Fesseln nicht auf. Jeremy!«
Er stöhnte. Seine Zunge lag wie ein Fremdkörper in seinem Mund. Ein dicker, pelziger, geschwollener Wurm.
»Ich würde dir ja gerne einen Eimer Wasser ins Gesicht kippen«, zischte sie. »Aber mir sind leider die Hände gebunden. Streng dich an!«
Er sandte alle Kraft, allen Willen in seine Glieder. Seinen Augen gelang nur ein winziges Blinzeln. Seine Hände waren gefühllos, abgestorben.
»Er ist weg. Ich weiß nicht, wohin. Aber ich glaube, er kommt gerade zurück. Kannst du mich verstehen?«
»Ja«, stöhnte er. Zwei Zähne wackelten, er spuckte etwas Blut. »Was ist passiert?«
»Er hat dich k.o. geschlagen. Dann hat er uns gefesselt und hier liegen gelassen.«
Mühsam drehte Jeremy sich auf die Seite. Sein Kopf lag immer noch auf dem Boden. Das Erste, was er sah, war ein umgekippter Stuhl. Sein Blick tastete sich nach oben. Cara hatte die Hände auf dem Rücken und versuchte verzweifelt, ihre Fesseln am Stahlrohr der Lehne aufzuscheuern.
»Wer ist dieser Kerl?«
»Ich kenne ihn.
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