Das Dorf der Mörder
ich mal wieder an der Reihe.«
»Mal wieder?«
»Ich habe sie damals gefunden. Immer wieder. Es war genauso nah dran wie bei dir. Das ist ja das Schlimme. Wenn es passiert, betet man und fleht zu Gott und gibt irgendwelche unsinnigen Versprechen ab, bloß damit sie durchkommt. Man isst nicht, schläft nicht, wacht an ihrem Bett, heult Rotz und Wasser. Und dann schlägt sie die Augen auf und sagt, sie kann bei dem Krach nicht schlafen.«
Sie wollte zur Tür, aber Jeremy versperrte ihr den Weg.
»Ich kann verstehen, dass du sauer bist.«
»So?« Er spürte, wie sie ihre Wut nur mühsam im Zaum halten konnte. Wut, und noch etwas anderes, das schon so lange so tief in ihrem Innersten verborgen war: Schmerz. »Gar nichts kannst du! Du bist der lausigste Seelenklempner, der mir je begegnet ist.«
»Dann hilf mir, besser zu werden.«
»Ach komm.« Sie wollte sich seitlich an ihm vorbeidrücken, aber er stellte sich ihr in den Weg. Das machte sie noch wütender. »Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Charlie ist tot für mich, ja? Sie ist gestorben! Es gibt sie nicht. Sie hat sich vom Acker gemacht, sie hat mich im Stich gelassen. Soll sie alleine sehen, wie sie aus dem Mist wieder herauskommt.«
»Wir haben nächste Woche einen letzten Termin mit ihr. Am Mittwoch.«
»Darf ich jetzt bitte gehen?«
Er trat einen Schritt zur Seite. »Wir haben nur noch diesen Tag. Acht Stunden, die Brock bei der Staatsanwaltschaft zusätzlich herausgeschlagen hat. Es ist unsere letzte Chance, Charlotte Rubin zu helfen. Sprich mit Brock. Wenn du es nicht für sie tun willst, dann tu es für dich.«
»Für mich? Was soll das denn heißen?«
»Sie im Stich zu lassen würdest du dir nie verzeihen.«
Sie war schon fast an der Tür, doch dann überlegte sie es sich anders und kam noch einmal zurück. Bleib, dachte Jeremy, bitte bleib. Geh jetzt nicht.
»Du glaubst, du kannst mit mir reden, als ob du mich kennen würdest«, sagte sie. »Aber du hast keine Ahnung. Das hier mit dir war eine nette Abwechslung, mehr nicht. Was auch immer du hineininterpretieren möchtest, lass dir gesagt sein, es existiert nicht. Ich existiere nicht. Charlie existiert nicht. Wir sind nur das, was du in deinem Kopf aus uns machst.«
»Und ich? Was machst du aus mir in deinem Kopf?«
Ganz kurz, kaum wahrnehmbar, flatterten ihre Lider. Dann hatte sie sich wieder in ihrer Gewalt. »Einen von vielen.«
Es fühlte sich an, als hätte sie einen Kübel Eiswürfel in seine geöffnete Bauchhöhle gekippt. Sie ging. Ihr Duft schwebte noch im Raum, als er schon längst das Licht gelöscht hatte und sich schlaflos von einer Seite auf die andere warf.
16
F ür Lutz Gehring, Kriminalhauptkommissar der Mordkommission Sedanstraße, waren die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Entfaltung eingeschränkt. Gewachsene Strukturen gab es nur im Westen. Der Tennisclub Rot-Weiß, die Freunde der Nationalgalerie, der Golfclub Wannsee, die traditionsreichen Rudervereine – für jemanden mit Wohnsitz am Wendenschloss in Köpenick lagen sie quasi am anderen Ende der Welt.
In Mitte gab es natürlich den Sportclub am Gendarmenmarkt. Die Staatsoper. Vielleicht noch die Volksbühne und das Berliner Ensemble. Diverse Clubs, für die er sich jetzt schon, Mitte dreißig, zu alt fühlte. Das Berghain hatte er einmal im Leben bei einer Razzia von innen gesehen und sich gewundert, dass dieser dunkle Bunker der Begierden und Exzesse über eine Raucher-Lounge verfügte. Sie war der Ort, an dem am wenigsten geraucht wurde.
So hatte er die Galopprennbahn Hoppegarten entdeckt. Anfangs, weil Lea und Lukas dort Pferde zu sehen bekamen und es ihm Spaß machte, mit Susanne am Sattelplatz zu stehen und einen Blick auf die rassigen Tiere zu werfen, bevor sie zwei Euro am Wettschalter setzten und die ganze Familie dem Zieleinlauf entgegenfieberte. Später, weil er in den Logen ab und zu den innenpolitischen Sprecher der Partei traf, die er auch wählte, und Susanne und die Kinder sich auch ganz gut ohne ihn amüsierten. Noch später, als die Kinder größer waren und Susanne ihre Drohung wahrgemacht hatte – ihn zu verlassen, wenn er nicht endlich auf familienfreundlicheren Diensten bestand –, fand er in den wenigen Stunden Freizeit, die er sich neben Sport, Beruf und Weiterbildung gönnte, in Hoppegarten Ablenkung und Zeitvertreib. Noch immer las er aufmerksam die Rennzeitung, ging zum Sattelplatz, beobachtete, wie die Jockeys mit den aufgeregten Pferden umgingen, und setzte schließlich
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