Das Dorf der Mörder
trug.
»Als ich herkam, habe ich einen Traktor gesehen. Die Felder werden noch bestellt.«
»Im Nachbardorf, ja. Hier gibt’s das schon lange nicht mehr. Lohnt sich nicht. Mittlerweile zahlt Brüssel ja dafür, dass sie ihre Milch wegschütten und den Raps zu Benzin verarbeiten. Eine Sünde ist das, wenn Sie mich fragen.«
Das hatte Sanela zwar nicht getan, aber sie gab Walburga Recht.
»Da steht Schnittlauch«, sagte sie plötzlich. »Er blüht ja schon! Das sieht hübsch aus. Gab es hier mal einen Küchengarten?«
»Hier gab es alles.«
Sanela sprang auf und lief in die Ecke des vernachlässigten Gartens. Violette, runde Blüten auf saftig grünen Stängeln strotzten mit anderen robusten Gewächsen, die auch ohne die ordnende Hand eines Gärtners zurechtkamen, um die Wette: Rhabarber, Zucchini, hochgeschossener Blattsalat, grüne, noch nicht ganz reife Stachelbeeren.
»Borretsch!«, rief sie. »Und Dill!«
Sie lief weiter durch Disteln und kratzende Brombeerranken und blieb am Ende des Gartens mit einem verzückten Aufschrei stehen. »Und Apfelbäume!«
Eine alte Streuobstwiese lag am Fuß eines sanft geschwungenen Hügels. Schief, krumm und knorrig ragten die Stämme aus dem beinahe hüfthohen Gras und erinnerten Sanela an die Obstbäume ihrer Kindheit. Kirschen, Pfirsiche, Aprikosen … der Sommer war ein Fest gewesen. Manchmal glaubte sie noch, seinen Duft zu riechen. Wenn ihr Kollege Sven eine Tüte Schaumzuckererdbeeren im Wagen öffnete, stiegen ihr die künstlichen Aromen in die Nase, betäubend, überwältigend, zu echt, um wahr zu sein. Aber so hatten die Erdbeeren in der Küche ihrer Mutter gerochen, wenn sie Marmelade und Kompott kochte. Sie hatte bis heute nicht verstanden, warum die Früchte im Supermarkt sauer rochen und nach Holzwolle schmeckten und die bunten Süßigkeiten dufteten wie die echten Erdbeeren, die man kurz nach dem Pflücken essen musste, weil sie sonst noch in der Hand zu blutrotem, zuckersüßem Matsch zerliefen.
Am Ende der Wiese standen die Pflaumenbäume. Sie wurden nicht mehr abgeerntet. Ihre Früchte fielen zu Boden, ein Festmahl für Wespen und Vögel. Sanela pflückte sich eine Handvoll der überreifen dunkelvioletten Pflaumen und stieg den Hügel hinauf. Oben angekommen, setzte sie sich ins Gras und biss in die erste Frucht. Sie war prall und süß und warm von der Sonne. Sie würde fragen, ob sie sich welche mitnehmen durfte. In anderen Dörfern stellten die Leute Körbe mit Obst und Gemüse vor die Tür, und jeder konnte sich bedienen, einfach mitnehmen, so viel er wollte, und einen Obolus in die »Kasse des Vertrauens« werfen. In Wendisch Bruch verrotteten die Pflaumen an den Bäumen. Wahrscheinlich kamen zu wenig Leute.
Sie legte schützend die Hand über die Augen und suchte den Traktor. Die gelbe Staubwolke hatte sich gelegt, das Fahrzeug war verschwunden. Die Felder lagen nebeneinander wie riesige Handtücher. Flachs, Raps, Mais, Weizen. Dazwischen ragten wie Inseln immer wieder kleine Baumgruppen in den Himmel. Es war ein schönes Land. Sanft, in gedämpften Farben, nicht spektakulär wie die Alpen oder die Nordsee, dafür streichelte es die Seele. Vielleicht ein wenig einsam, aber Städter mochten das doch. Was lief falsch in Wendisch Bruch?
Von ihrem Ausblick aus konnte Sanela das Dorf überblicken. Der Zustand einiger Dächer verriet, dass die Häuser von den Besitzern aufgegeben worden waren. Acht Menschen lebten noch dort unten. Sanela zählte die Häuser, es waren über dreißig. Sie fragte sich, in welchem Charlotte Rubin groß geworden war. Vielleicht in dem kleinen, das fast ganz mit Efeu überwuchert war? Oder in einem der drei neueren Bauten am Ortsausgang? Auf dem Hof? Ein Aussiedlerhof. Er war das hässlichste von allen Gebäuden Wendisch Bruchs.
Sie presste den letzten Pflaumenkern zwischen Daumen und Zeigefinger und schoss ihn auf eine diebische Krähe ab, für die Walburgas Obstgarten das Paradies sein musste. Natürlich verfehlte sie den Vogel.
Auf dem Rückweg nahm sie so viele Pflaumen mit, wie sie tragen konnte. Ihre Wirtin hatte den Garten verlassen und stand bereits, eine Halbschürze um die ausladenden Hüften gebunden, in der Küche. Auf dem Herd stand ein großer Topf mit Wasser. Die Kartoffeln lagen in der Spüle. Sanela legte die Pflaumen dazu und brauste sie ab.
»Das wird unser Nachtisch«, sagte sie. »Kroatische Pflaumenbuchteln. Haben Sie Eier, Mehl und Hefe?«
Walburga wies auf eine niedrige Tür neben dem Herd, die
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