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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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in der Ortsmitte hatte es vor langer Zeit einmal Geschäfte gegeben. Auf den grauen Hauswänden, von denen sich schon große Placken Putz gelöst hatten, verblichen die Buchstaben. Früher hatten sie einmal die Worte Bäckerei und Fleischerei gebildet. Sogar ein Wirtshaus hatte es gegeben. »Zur Linde«, entzifferte Sanela und hätte schwören können, dass die alten Bäume davor Kastanien waren.
    Sie hielt an und stellte den Motor ab. Ihre erste Aufgabe würde sein, Überlebende dieser stillen Katastrophe zu finden, die sich hier ereignet haben musste. Etwas war mit Wendisch Bruch geschehen. Vielleicht lag es an dem viel beschworenen demographischen Wandel – keine Arbeit für junge Leute, Wegzug, Verödung ganzer Landstriche. Es war eines dieser reizlosen Dörfer, die man sehr lieben musste, um es dort noch auszuhalten. Im Rückspiegel entdeckte sie eine alte Frau mit einem Stock, die fünfzig Meter hinter ihr die Straße überquerte, in der Mitte stehen blieb und die Hand über die Augen legte, um sich kein Detail ihres Autos entgehen zu lassen. Noch bevor Sanela den Entschluss fassen konnte, sie anzusprechen, schlurfte die Frau weiter.
    Dann eben nicht, dachte sie. Mit einem Seufzen stieg sie aus und ging auf die geschlossene Tür des Gasthauses zu. Sie klopfte, aber nichts regte sich.
    »Hallo? Ist da jemand?«
    Sie drehte sich um. Die alte Frau war wie vom Erdboden verschluckt. Die Stille über dem Dorf war beinahe unheimlich. Sie trat einige Schritte zurück und sah die Fassade hoch. Es musste einmal ein hübsches Haus gewesen sein, vor langer Zeit. Erbaut in der Sommerhausarchitektur der dreißiger Jahre, mit Fensterläden aus Holz und einem gemütlichen, tiefgezogenen Dach. Auf der linken Seite des Grundstücks hatte jemand vor langer Zeit einen Biergarten angelegt. Noch immer spendeten die dicht belaubten Baumkronen Schatten, aber aus dem Kies spross das Unkraut, und einige verrostete Gartenstühle lehnten an der Hauswand. Sanela wartete nicht darauf, dass jemand kommen und ihr öffnen würde. Sie betrat das Grundstück und umrundete das Haus. Weiter hinten, zwischen einem Abstellschuppen neueren Datums und einem leeren, von der Sonne ausgebleichten Kinderplanschbecken aus billigem Kunststoff, hing Bettwäsche auf einer Leine. Zwischen den weißen Laken bewegte sich ein Schatten.
    »Guten Tag. Entschuldigen Sie die Störung …«
    Der Hund war groß wie ein Kalb und stürzte ohne Vorwarnung auf Sanela zu. Mit lautem Bellen und gefletschten Zähnen tanzte er um sie herum. Das Grollen aus seiner Kehle klang, als ob er schon lange auf so eine Gelegenheit gewartet hätte. Er musste uralt sein, mit grauen Lefzen und gelben Augen – und, leider, noch allen Zähnen.
    »Ruhig«, stammelte sie. »Ganz ruhig.«
    Man soll Hunden nicht in die Augen sehen, das macht sie aggressiv. Aber auch ohne Blickkontakt beruhigte sich das Vieh nicht. Sanela nahm sich vor, Wendisch Bruch auf der Stelle zu verlassen, wenn sie lebend aus dieser Situation herauskam.
    »Hallo?« Ihre Stimme zitterte. Der Hund war wohl eine Mischung aus Labrador und Dogge, sein Fell graubraun gefleckt. Irgendwo auf der anderen Straßenseite musste es einen weiteren Hund geben, den dieses Mistvieh gerade alarmiert hatte. Sie hörte, wie er wütend und angriffslustig bellte. Noch mehr Hunde wachten auf. Das Dorf schien lebendig zu werden und ausschließlich von Vierbeinern bewohnt zu sein.
    »Aus. Bruno!«
    Das Betttuch wurde zur Seite geschlagen. Eine mollige Frau, vielleicht Anfang sechzig, kam unwillig, mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugier, auf den ungebetenen Besucher zu. Sie trug einen ausgewaschenen Baumwollkittel. Ihr rundes Gesicht war von der Hitze gerötet, aber nicht gebräunt. Vermutlich hielt sie sich den ganzen Tag im Haus auf. Ihre Haare sahen aus, als würde sie sie sich selbst schneiden. Sie waren dünn, hellbraun, von grauen Strähnen durchzogen und klebten schweißnass an Stirn und Schläfen. Sie gab sich alle Mühe, abweisend und unfreundlich zu wirken. Dabei musste sie in einem früheren Leben einmal eine niedliche Person gewesen sein, die Fremde durchaus willkommen geheißen hatte, denn die Neugier blitzte aus ihren kleinen Augen.
    Bruno hörte augenblicklich auf zu bellen und verwandelte sich vor Sanelas Augen in ein liebenswürdiges Unschuldslamm, das neugierig an ihren Schuhen schnupperte. Sie versuchte, tief durchzuatmen.
    »Ja?«
    »Mein Wagen … ich fürchte, die Kühlung hat gerade den Geist aufgegeben. Gibt es hier

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