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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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wie mit ihrem Auftauchen in Wendisch Bruch, diesem versinkenden Dorf im Fläming, dem keiner eine Träne nachweinen würde.
    Von weit her hörte sie eine Glocke schlagen. Sechs Uhr. Der Klang kam bestimmt nicht von der Dorfkirche, brachte Sanela aber auf einen Gedanken.
    »Na, Bruno? Lust auf einen Spaziergang?«
    Die Feldsteinkirche war ein kleiner, bescheidener Bau von protestantischer Strenge. In seinem Inneren standen links und rechts vom Mittelgang sechs Bankreihen aus Holz und ein steinerner Altar, den noch nicht einmal eine Decke schmückte. Keine Kanzel, keine Orgel, keine Empore. Ein großes Kreuz mit dem leidenden Christus war der einzige Schmuck. Der Boden war mit alten, abgetretenen Steinkacheln gefliest, manche kippelten beim Darübergehen.
    Brunos Hecheln draußen vor der Tür hallte über die kahlen Wände. Sanela bekreuzigte sich, ging vor den Altarstufen in die Knie und flüsterte ein schnelles Otse nas Koji. Sie war gerade fertig, als ein Schatten den Eingang verdunkelte. Jemand musste die gleiche Idee wie sie gehabt haben. Sie stand auf, wischte sich den Staub von der Hose und drehte sich um.
    Eine alte Frau stand, gestützt auf einen Stock, in der Tür. Sanela wusste nicht, ob es die gleiche war, die sie im Rückspiegel ihres Autos gesehen hatte. Bei eins zu acht standen die Chancen dafür nicht schlecht.
    »Guten Abend«, sagte sie und versuchte, höflich, gottesfürchtig und freundlich zugleich zu wirken.
    Die Frau nickte ihr zu und musterte sie dann von oben bis unten. Walburgas Unterhemd war einfach zu groß, ständig rutschte ein Träger herab. Unter dem prüfenden Blick fühlte Sanela sich wie eine frivole Touristin, die der Würde des Ortes nicht entsprach.
    »Wollte nur mal nach dem Rechten sehen.« Die Stimme schmirgelte wie Sandpapier auf Holz: rau, trocken, heiser.
    Die Frau machte einige vorsichtige Schritte auf die hinterste Bank zu. Sanela wollte auf sie zueilen und ihr helfen, aber sie winkte unwirsch ab und setzte sich. Das alte Holz stöhnte unter dem ungewohnten Gewicht.
    »Ich bin zu Besuch bei Frau Wahl«, sagte Sanela. »Wahrscheinlich haben Sie meinen Wagen gesehen.«
    »Aus Berlin, nicht wahr? Das ist ja eine weite Strecke bis zu uns heraus. Ich wusste gar nicht, dass Walburga Leute aus der Hauptstadt kennt.«
    »Ja«, antwortete Sanela gedehnt, weil ihr keine passende Erklärung einfiel. »Ich will Sie nicht stören.«
    »Sie sind Ausländerin? Das war kein deutsches Gebet.«
    »Es war das Vaterunser. Das gibt es in allen Sprachen der Welt.«
    Die Frau kniff misstrauisch die Augen zusammen. Sanela schätzte sie auf mindestens siebzig. Eine dieser verblühten, von Arbeit und Entbehrung hart gewordenen alten Krähen, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun hatten, als ihre Nachbarn zu beobachten. Ihr Haar war schlohweiß und zu einem strengen Knoten im Nacken gebunden. Der Stock und die Deformation ihrer Hände wiesen auf eine Gichterkrankung hin.
    »Was wollen Sie hier?«
    »Beten«, antwortete Sanela. »Einen schönen Abend noch.«
    Sie wollte zur Tür. Bruno sprang bei ihrem Anblick auf und begann, hechelnd mit dem Schwanz zu wedeln.
    »Sie sind hier wegen Charlotte.«
    Sanela blieb stehen. »Kannten Sie sie?«
    »Jeder kannte diese Mischpoke.«
    Die harten Züge der Frau verschlossen sich noch mehr. Trotzdem fühlte Sanela, dass sie zum Reden gebracht werden wollte. Sie wusste nur noch nicht, wie. Langsam kehrte sie zu der Holzbank zurück.
    »Wendisch Bruch war in den Schlagzeilen«, sagte sie. »Das Dorf, aus dem das Monster kam. Das ist schon heftig, mit so etwas leben zu müssen.«
    »Es ist gut, dass sie hinter Schloss und Riegel ist.«
    »Glauben Sie, sie hat es getan?«
    »Natürlich«, murmelte die Frau. Ihre kleinen Augen waren hell und wässrig. »Zuzutrauen wäre es ihr.«
    Sanela setzte sich. Sie erwartete Protest, aber die Alte ließ es geschehen.
    »Ich habe gelesen, dass Charlotte Rubin Wendisch Bruch schon als sehr junges Mädchen verlassen hat. Mit fünfzehn oder sechzehn, glaube ich. Wie kann man denn in dem Alter schon so viel verbrannte Erde hinterlassen?«
    Die Alte zuckte mit den mageren Schultern. »Das liegt in der Familie. Alkoholiker, Schlampen, Asoziale. Ich weiß noch, dass ich jedes Mal, wenn ich sie sah, dachte, aus der wird nichts. Trotzdem haben sich die Männer nach ihr umgesehen. Mit zwölf sah sie schon aus wie zwanzig.«
    Aus dem Mund der Frau klang das wie ein Verbrechen.
    »Und später? Hatte sie einen Freund?«
    Fehler. Erst denken,

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