Das Dorf der Mörder
einem Futtertrog?«
»Nein, es war ein Backtrog. Früher waren sie aus Holz, jetzt sind sie aus Edelstahl. In ihnen wird der Teig zubereitet. Er geht über Nacht, und am frühen Morgen werden daraus die Brote geformt und gebacken.«
Walburga legte ihre Buchtel, die sie in der Hand gehalten hatte, zurück auf den Teller. Sie hatte Puderzucker im Gesicht, aber Sanela unterließ es, sie darauf hinzuweisen.
»Und wie muss ich mir das vorstellen? Was genau ist mit Esthers Mann passiert?«
»Er ist irgendwie in den Trog gefallen und darin erstickt. Vielleicht war er betrunken und wollte nochmal nachsehen, und da ist es dann passiert. Genau weiß es keiner, es war ja auch niemand dabei.«
»Wie kann man denn in einem Backtrog ersticken?«
»Ich weiß es nicht. Es gibt Todesarten, von denen erfährt man auch nur hinter vorgehaltener Hand. Der Arzt hat gesagt, er wäre erstickt. Die Polizei war hier und hat den Vorfall untersucht, aber auch sie ist zu der Ansicht gekommen, dass es ein Unglück gewesen sein muss. Der Behälter ist so groß.« Sie streckte die Hand aus, was einer ungefähren Höhe von einem Meter entsprach. »Und er war bis zur Hälfte mit Teig gefüllt. Da war er kopfüber drin.«
»Jesus Maria.« Sanela trank ihr Glas leer. Auf diese Geschichte hin brauchte sie Alkohol.
»Ja, das kann man wohl laut sagen.«
»Und Esther?«
»Trug ein Jahr Schwarz und lebte danach genauso weiter wie bisher.«
»Wann war das?«
»Ach Gott, da muss ich überlegen. Anfang der Neunziger? Sie hat die Bäckerei noch eine Weile weitergeführt, aber sie lief nicht mehr richtig. Kein Wunder. Wer will auch sein Brot dort kaufen, wo der Meister … na ja. Man hatte immer so ein ungutes Gefühl, was wohl noch alles so reingefallen sein könnte. Sie hat einen neuen Trog angeschafft, aber das hat auch nichts geholfen. Nach zwei Jahren hat sie aufgegeben, seitdem sitzt sie den ganzen Tag am Fenster.«
Sanela stand auf und nahm ihr Glas, das Walburga gerade wieder gefüllt hatte. Sie ging zum Fenster, lehnte sich hinaus und holte tief Luft. Wendisch Bruch hatte erstaunliche Töchter.
»Und die anderen?«, fragte sie und drehte sich um.
Walburga stand ebenfalls auf und trug die Teller zur Spüle.
»Die anderen Männer? Wo sind sie hin?« Trink nicht so viel, dachte sie und nahm einen großen Schluck.
»Ich glaube, für heute haben Sie genug erfahren. Sie schlafen sonst schlecht. Wollen Sie sich nicht Ihr Zimmer ansehen?«
Sanela ahnte, dass sie an diesem Abend nichts Brauchbares mehr aus Walburga herausbekommen würde, und ließ sich auf den Vorschlag ein. Das Zimmer befand sich im ersten Stock. Es war klein und roch nach Mottenkugeln und Weichspüler. In ihm standen zwei durchgelegene Doppelbetten, ein Schrank, dessen Türen beim Öffnen erbärmlich quietschten, und an der Wand hing ein Waschbecken. Auf dem frisch bezogenen Bett lagen zwei Handtücher und ein Nachthemd aus verwaschen geblümter Baumwolle. Walburga entschuldigte sich mehrmals mit der Erklärung, seit Jahren keine Gäste mehr gehabt zu haben, und ließ Sanela dann alleine.
Sie setzte sich auf das Bett, das unter ihrem Gewicht nachgab und auf dem man wohl Trampolin springen konnte. Als sich die Schritte ihrer Gastgeberin entfernt hatten, holte sie ihr Handy aus der Tasche. Die Versuchung, Gehring anzurufen, war fast übermächtig. Sie ließ es nur deshalb bleiben, weil sie um diese Uhrzeit nur seinen Anrufbeantworter im Büro erreichen würde.
Was hatte sie in der Hand? Nichts. Vielleicht war es Zufall, dass es in diesem Dorf nur noch Frauen gab. Aber sie musste herausfinden, warum das so war. Wenn sich alle Gatten auf so merkwürdige Weise entleibt hatten, war das zumindest ein Anfang. Sie warf sich zurück aufs Bett und schloss die Augen. Sie war müde. Todmüde. Ihre Schulter schmerzte wieder. Sie wollte noch einmal hochkommen und die Schmerztabletten in ihrer Handtasche suchen, aber sie schaffte es nicht mehr.
21
J eremys Blick fiel auf Caras Armbanduhr. Es war kurz vor zehn Uhr abends, und sie hatten es wirklich geschafft, das Thema Charlie nicht zu berühren. Es hatte nur deshalb funktioniert, weil Cara einige amüsante Geschichten aus ihrer Tierarztpraxis erzählt und er seinen gesamten Lebenslauf vor ihr ausgebreitet hatte. Die Probleme mit seinem Vater verschwieg er. Es hätte ein wunderschöner Abend sein können, und das Glücksgefühl hielt an, bis er die Rechnung bestellte. Aber dann kam der Moment, den sie die ganze Zeit befürchtet
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