Das Dorf der Mörder
Kinder hatte er im Zusammenhang mit einer Frau nie ernsthaft gedacht. Und wenn, dann war immer klar gewesen, dass diese Option zu einer gemeinsamen Zukunft gehörte. Noch nie war ihm jemand begegnet, der sie so vehement ausschloss. Und schon gar nicht aus so einem Grund.
»Eine Baby-Allergie?«
Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Das ist wohl ein ganz neues Krankheitsbild, nicht wahr? Vielleicht sollte ich darüber mit deinem Professor reden. Ich mag Kinder. Wirklich. Ich habe noch nicht mal was dagegen, wenn sie schreien, rennen und herumbrüllen und leere Flaschen herumkicken. Und Babys sind süß und herzig, wenn sie glucksen und schlafen. Aber wenn sie schreien, dann will ich mir nur noch die Ohren zuhalten und davonlaufen. Bist du jetzt enttäuscht?«
Jeremy öffnete ihr die Beifahrertür. »Nein. Ich fand es übrigens auch sehr lästig. Niemand hat ja mehr die Courage, gegen Zumutungen einzuschreiten. Du hättest sie vielleicht nicht so anschreien sollen.«
»Sie war doch schon taub. Hast du das nicht gemerkt?«
Mit einem Kichern schlüpfte sie an ihm vorbei auf ihren Platz. Jeremy ließ die Tür hinter ihr zufallen. Da war sie wieder, Caras gute Laune. Eben noch am Boden zerstört, in der nächsten Sekunde von einer überwältigenden Fröhlichkeit. Als ob die Welt eine Zirkusmanege wäre und das Leben ein Orchester, das im Sekundentakt von Moll zu Dur wechselte. Cara war ein Clown. Obwohl sie ihn durch die Scheibe hindurch angrinste, sah er, dass ihr Herz immer noch weinte.
Mitten in der Nacht wurde Sanela vom knatternden Geräusch eines startenden Autos geweckt, das sie an ihren Jetta erinnerte. Ihr Mund war trocken, und sie schaffte es gerade, von ihrem Bett zum Waschbecken zu taumeln und ein paar Schlucke direkt aus der Leitung zu trinken. Das Auto entfernte sich. Sanela tastete sich zur Tür und wollte sie öffnen, aber sie war abgeschlossen. Sie fiel aufs Bett, und noch bevor sie sich eingehend darüber wundern konnte, wie sie es geschafft hatte, sich selbst einzuschließen, war sie schon wieder eingeschlafen.
22
M ieze hatte Kaffee gekocht und in einer Anwandlung seltener Großzügigkeit sogar einen Blechkasten Kekse spendiert. Jeremy holte unter ihrem strafenden Blick gleich seine Lieb lingssorte heraus: lange, schmale Schokoladenwaffeln. Er ließ sich die erste auf der Zunge zergehen, während er bei einer Tasse Kaffee im Vorzimmer darauf wartete, dass Cara erschien.
Er hatte ihr nicht angeboten, sie abzuholen, und sie hatte auch nicht darum gebeten, dass er es tat. Nachdem er sie am vergangenen Abend vor einer kleinen Pension in der Fasanenstraße abgesetzt und sie sich freundschaftlich, aber nicht zärtlich verabschiedet hatten, war ihm auf dem Nachhauseweg Caras plötzlicher Anfall nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Als er seinen Vater noch wach, lesend und allein im Kaminzimmer vorfand – Henny konnte mit dieser Art Abendgestaltung nichts anfangen und hatte sich in einer der Himbeerbowlen-Abschleppbars rund ums Roseneck mit ihren Freundinnen verabredet –, war er nicht wie sonst mit einem kurzen Gruß vorübergegangen, sondern hatte sich ihm gegenüber in das englische Ledersofa geworfen.
Jason Saaler ließ Francis Bacons Essays sinken und legte den Band, als er sich sicher war, dass Jeremy ein Gespräch suchte, auf einen Stapel zu Alain Badiou, Platon, Donald Davidson und Richard Rorty. Alles Lektüre, die der Vater dem Sohn des Öfteren ans Herz legte und die dieser zugunsten von Literatur verschmähte, die bei echten Philosophie-Connaisseuren nur ein müdes Lächeln provozierte: Safranski, Sloterdijk, die modernen Salonduellanten, die das Denken an die Late-Night-Formate der öffentlich-rechtlichen Sender angepasst hatten. Zumindest war das Jason Saalers Meinung.
»Störe ich?«
Sein Vater nahm die Brille ab. Das gnädige Halbdunkel der Bibliothek, die schimmernden Buchrücken in den Regalen, das kaum berührte Whiskey-Glas auf dem Couchtisch, all das ergab Rahmen und Grundfarbe des Gemäldes, das Jeremys Vater sogar in seiner knappen Freizeit gerne von sich präsentierte. Patriarch am Abend. Wenn nur die tiefen Falten in seinem Gesicht nicht gewesen wären und die Müdigkeit in seinen Augen, die er sich nur gestattete, wenn Henny nicht in der Nähe war.
»Nein. Wie geht es voran bei Gabriel?«
»Gut.« Jeremy hatte nicht vor, seinen Vater über die diversen Bolzen in Kenntnis zu setzen, die er geschossen hatte. »Ich wollte dich fragen, ob du schon einmal von einer
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