Das Dorf der Mörder
dann fragen. So viel Neugier war unüblich für eine Ortsfremde. Doch die Frau schien das nicht zu irritieren.
»Nein. Zumindest keinen, der sich getraut hätte, das zuzugeben. Mit denen wollte keiner was zu tun haben. Jedenfalls nicht von uns.«
»Mit uns meinen Sie …«
»Anständige Leute.«
Charlotte Rubin konnte kein hübscher Teenager gewesen sein. Oder man sah das in so einem Kaff anders. Sie war einen Kopf größer als die meisten Frauen und hatte eine ungelenke, nicht sehr weibliche Körpersprache. Was um alles in der Welt sollte die anständigen Männer in Wendisch Bruch verrückt gemacht haben?
»Sie ist nicht sehr hübsch.«
»Das war keine von denen. Na ja, die Kleine vielleicht. Die Nachzüglerin. Die war anders. Sie hat den Alten bis zu seinem Tod gepflegt, aber dann ist sie auch abgehauen. Was sollte sie hier auch. Der Hof war am Ende, der Alte hat alles versoffen. Da war der Wurm drin. In jedem. Auch in der Kleinen. Wie die einen angesehen hat manchmal …«
Die Frau schauderte.
»Und den Hof wollte keiner haben?«
»Der war im Eimer.«
Bruno begann, mit einem sehnsuchtsvollen Jiepern auf sich aufmerksam zu machen. Sanela sah auf ihre Uhr und bemerkte, dass es schon kurz vor sieben war. Walburga würde sich hoffentlich keine Sorgen machen.
»Ehrlich gesagt, wundert mich das. Ich bin auf dem Weg durch einige Dörfer gekommen, und keines sah so verlassen aus wie dieses hier. Frau Wahl sagte, es gebe keine Kinder hier. Warum nicht?«
Die Frau griff mit der linken Hand nach ihrem Stock und mit der zitternden rechten nach der Banklehne vor ihr. Sanela sprang auf und half ihr hoch. Sie spürte die Knochen unter dem dünnen Baumwollstoff und hatte Angst, ihr Griff könnte der Frau etwas brechen. Schließlich stand die alte Dame, schwankend, doch eisern entschlossen, alleine loszugehen.
»Warum gibt es keine Kinder hier?«, fragte Sanela noch einmal.
Ein kurzes, freudloses Lachen war die Antwort. Die Frau schlurfte zur Tür und wurde draußen von Bruno empfangen, der sie vorsichtig und behutsam abschnupperte, als ob er wüsste, dass ein ungestümes Schwanzwedeln sie zu Boden werfen könnte. Sanela folgte ihr. Nach der Kühle in der Kirche kam ihr die Wärme draußen feucht und schwül vor.
»Keine Männer«, sagte die Alte und ging grußlos davon.
»Warum gibt es keine Männer in Wendisch Bruch?«
Walburga, die gerade ihre zweite Buchtel von den anderen gelöst hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. Sie saßen am Küchentisch, die benutzten Teller nachlässig aufeinandergestapelt, und machten sich gerade über Sanelas Nachtisch her.
»Wer sagt denn so was? Gott, sind die lecker.«
»Eine alte Frau. Ich habe sie in der Kirche getroffen.«
»Dünn wie ein Rohrstock?«
Sanela nickte, weil sie gerade den Rest ihrer ersten Buchtel in den Mund gestopft hatte. Sie waren nicht ganz so zart und süß geworden, wie sie ihr zuhause gelangen. Es musste an den anderen Zutaten und einem fremden Ofen liegen. Trotz dem schmeckten sie. Buchteln waren das einzige Rezept, das sie an ihre Heimat erinnerte. Sie buk Buchteln, seit sie denken konnte, und sie gelangen ihr normalerweise im Schlaf.
»Das war Esther. Sie hatte es nicht leicht im Leben. Ihr Mann war der Bäcker hier im Dorf.«
Das war alles andere als eine Erklärung.
»Er war, na ja, also er ging mit seinen Broten wohl liebevoller um als mit seiner Frau.«
»Und? Hat sie ihn eines Tages in den Ofen geschoben?«
Walburga sah sie mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht an. »Nein. Nicht direkt. Er … das war eine schlimme Geschichte. Sie ist auch schon lange her, und keiner redet gerne davon.«
Sanela spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Sie tupfte mit dem Zeigefinger die Puderzuckerreste von ihrem Teller und versuchte, so unbeteiligt wie möglich auszusehen.
»Was denn für eine schlimme Geschichte?«
»Sie hat … also ich weiß nicht, ob ich das erzählen kann.«
Komm schon, dachte Sanela ungeduldig. Du kannst doch nicht mittendrin aufhören, wenn es am spannendsten ist.
»Noch einen Schluck Wein?«
Walburga goss ihr, ohne zu antworten, nach.
»Was hat Esther?« Sanela schob ihren Teller zur Seite, rückte ein Stück näher an Walburga heran und senkte die Stimme, als ob die restlichen sieben Frauen des Dorfes draußen vor dem offenen Fenster stehen würden. »Was ist mit ihm passiert?«
Als ob Sanelas Vorsicht ansteckend wäre, sah nun auch Walburga ängstlich hinaus in den dunklen Garten.
»Er steckte im Trog.«
»In …
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