Das Dorf der Mörder
Baby-Phobie gehört hast und was das auslösen könnte.«
»Du meinst, Angst vor einer Schwangerschaft?«
Jason Saaler griff zu seinem Glas und trank einen kleinen Schluck. Mit einer Kopfbewegung wies er auf die gut bestückte Hausbar. Jeremy hob abwehrend die Hand.
»Nein. Babys. Besser gesagt, das Geschrei von ihnen.«
»Oh ja.« Jeremys Vater lächelte eine Spur erleichtert. Wahrscheinlich hatte er im ersten Moment vermutet, sein Sohn würde sich im Hinblick auf eine unerwünschte Schwangerschaft an ihn wenden. »Es gibt, glaube ich, niemanden, der das auf Dauer erträgt. Außer einer Mutter. Warum fragst du? Gibt es Abschnitte in deiner Lebensplanung, die du ohne mein Wissen erreicht hast?«
Jeremy verneinte mit einem kurzen Schütteln des Kopfes. »Es geht um eine Bekannte. Ich habe heute Abend zum ersten Mal erlebt, wie jemand wegen eines schreienden Kindes komplett die Nerven verliert.«
»Wie bedauerlich, dass die eigene Erinnerung erst so spät einsetzt. Sonst wüsstest du, dass deine Stimme die Lalique-Gläser deiner Urgroßmutter in der Vitrine zerspringen ließ.«
Ohne es zu wollen, musste Jeremy lächeln. Das war ihm in Gegenwart seines Vaters lange nicht mehr passiert. Wie selten doch ganz normale Regungen in diesem Haus waren. Lachen, Ärger, Ungeduld, impulsives Mitteilungsbedürfnis – hatte es das je gegeben? Oder hatte Jeremy auch daran die Erinnerung verloren?
»War ich so schlimm?«
»Die Ausgeburt des Teufels. Ich traute mich monatelang nicht, vor zehn Uhr abends nach Hause zu kommen. Das war meiner Karriere zwar ungemein förderlich, aber wenn ich geglaubt hatte, deinen Wutanfällen aus dem Weg gehen zu können, hatte ich mich getäuscht.«
»Das wusste ich gar nicht.«
»Deine Mutter hat den Großteil abgefangen. Ich habe viel an sie delegiert. Aber das war ja nicht dein Thema. Nein, eine Babygeschrei-Phobie? Wie äußert sich die?«
»Unwohlsein, Nervosität, Zittern, Panik.«
»Immer mehr Menschen werden von Lärm in den Wahnsinn getrieben. Gab es nicht mal einen Fall, in dem ein Mann den Gärtner des Nachbarn erschossen hat, weil er zu unchristlichen Zeiten den Rasen mähte?«
»Schon möglich.« Jeremy merkte, dass er die Unterhaltung mit seinem Vater genoss. »Aber es ist doch eine recht selektive Wahrnehmung. Den ganzen Abend über war es schon sehr laut. Gelächter, Stimmen, Autohupen, Musik – alles kein Problem. Bis dieses Baby anfing zu schreien.«
»Wer ist denn die junge Dame?«
Die Schwester einer so gut wie verurteilten sadistischen Mörderin?
»Eine Bekannte.«
»Etwas Ernstes? Etwas, das vielleicht in Richtung Kinderwunsch geht?«
»Also, bei ihr bestimmt nicht.«
Jason legte einen Arm auf der Sofalehne ab. Er dachte nach. »Hat sie Geschwister?«, fragte er schließlich.
»Eine Schwester. Ich frage mich aber nach diesem Erlebnis heute Abend, ob ich die Bekanntschaft vertiefen soll.«
»Nimm es nicht so ernst«, antwortete Jason zu Jeremys Erstaunen, der erwartet hatte, dass alles, was abseits der tatsächlichen oder eingebildeten gesellschaftlichen Norm lag, abzulehnen wäre. »Vielleicht hat sie ihre Tage. Oder Migräne. Hat sie Kinder?«
»Nein«, antwortete Jeremy überrascht. Auf diese Idee war er nicht gekommen.
»Bist du sicher? Sie ist ja, noch, eine Bekannte. In diesem zarten Stadium offenbart man vielleicht noch nicht die gesamte familiäre Situation.«
»Wenn sie Kinder hätte, würde sie doch nicht so merkwürdig reagieren.«
Sein Vater schenkte ihm einen langen Blick. »Vielleicht hat sie sie nicht mehr.«
Jeremy brauchte ein paar Sekunden, um zu erfassen, was sein Vater meinte.
»Nein.« Er stand auf. »Nein, das glaube ich nicht. Du denkst an Adoption oder Babyklappe? Das kann ich mir bei ihr wirklich nicht vorstellen.«
»Jeremy, muss ich dich wirklich immer wieder daran erinnern, dass man Menschen ihre Vergangenheit in der Regel nicht ansieht?«
»Ausgeschlossen.«
»Vielleicht hatte sie einen Schwangerschaftsabbruch und erträgt den Anblick kleiner Kinder deshalb nicht. Wurde sie denn auch aggressiv?«
»Natürlich. Sie hat die Mutter angeschrien.«
»Irgendwie sympathisch.«
»Ich hatte Angst, sie bekommt einen Anfall. Sie zitterte am ganzen Körper, und wenn ich nicht dazwischengegangen wäre, wäre sie auf die Frau vielleicht sogar losgegangen. Und auf den dämlich grinsenden Vater in seinen Trekkingsandalen gleich dazu.«
»Nichts gegen Trekking, mein Lieber. Trotzdem. So wie du den Vorfall schilderst, hat sie offenbar
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