Das Dorf der Mörder
wirklich ein massives Problem mit schreienden Kindern. Das ist in unserer Welt, die auf maximale Befriedigung der individuellen Wünsche ausgerichtet ist, mittlerweile als normal anzusehen. Mach dir keine Sorgen. Sie muss eine außergewöhnliche junge Frau sein, abseits der gängigen Normen. Du hast noch nie mit mir über deine Freundinnen gesprochen.«
Jeremy schluckte seine Wut hinunter. »Sie ist nicht meine Freundin. Eine Bekannte. Mehr nicht.«
»Bring sie trotzdem einfach mal mit.«
»Damit du sie analysieren kannst?«
»Damit wir wenigstens ab und zu so tun, als wären wir eine Familie.«
»Herr Saaler? Alles in Ordnung?«
Mieze reichte ihm einen Unterteller, damit er die geraubten Schokowaffeln darauf ablegen konnte. Die Hälfte des Überzugs war bereits in seiner Hand geschmolzen. Er eilte kurz in den Waschraum, um das Malheur zu beseitigen, da hörte er schon den Türgong.
Cara war pünktlich. Er hoffte, dass die abstrusen Überlegungen, die sein Vater ihm präsentiert hatte, nicht ständig in seinem Kopf Karussell spielten. Adoption. Babyklappe. Abtreibung. Alles in ihm sträubte sich, sich mit diesen Themen zu beschäftigen. Als er Cara begrüßte, bemühte er sich, seine düsteren Gedanken zu verbergen.
Es war ihr gelungen, wieder in Blütenweiß zu erscheinen. Ob sie ihre Klamotten noch in der Nacht per Hand gewaschen und anschließend gebügelt hatte oder ob sie im Kofferraum ihres Autos immer eine klinisch reine Garnitur Blusen und Hosen mit sich führte, er wusste es nicht. Sie sah strahlend, rein und so unschuldig aus, dass sogar Mieze, die ihre Sympathien ausgesprochen ungerecht und nie vorhersehbar verteilte, ihr Lächeln erwiderte.
»Bin ich zu früh? Oder zu spät?« Cara, ein wenig atemlos und die Haare nur minimal zerzaust, sah auf ihre Armbanduhr.
»Sie sind genau richtig. Der Professor erwartet Sie schon«, antwortete Mieze. Sie schob Jeremy den Keksteller hinüber, damit er ihn mit in Brocks Arbeitszimmer nahm.
»Ich begleite dich.«
Mieze schaffte es nicht mehr rechtzeitig, verwundert die dichten Augenbrauen zu heben – dass Jeremy Besucher duzte, war neu –, denn das Telefon klingelte. Sie meldete sich mit der üblichen Floskel, und Jeremy wollte gerade mit Cara in den Flur gehen, als sie die Hand hob und die beiden mit dieser Geste bat, noch zu warten.
»Ja, er ist da. Einen Moment bitte, ich stelle durch.«
Sie tippte Brocks Nummer in die Tastatur und legte auf.
»Frau Spornitz, ich muss Sie bitten, noch einen Moment in unserem Wartezimmer Platz zu nehmen.«
Cara sah fragend zu Jeremy, der auch nicht mehr wusste, und nickte. Er begleitete sie die paar Schritte über den Flur, hielt ihr die Tür auf und drückte ihr den Teller mit seinen Schokoladenwaffeln in die Hand, den sie in Anbetracht ihrer weißen Bluse so weit wie möglich von sich weghielt.
»Ich bin gleich wieder da. Mach dir keine Sorgen. Es tut nicht weh.«
Er lächelte sie beruhigend an. Später erinnerte er sich an seine letzten Worte, und sie schienen ihm im Nachhinein wie ein Menetekel all dessen, was so klar und vorhersehbar begonnen hatte und in einer Katastrophe endete.
Er kehrte zu Mieze zurück, die mit besorgtem Gesichtsausdruck begann, die restlichen Kekse auf einem Teller in geografischen Mustern zu ordnen.
»Die Staatsanwaltschaft«, sagte sie leise. »In Sachen Rubin.«
Das Telefonat konnte nicht länger als drei Minuten gedauert haben, aber Jeremy kam es vor wie eine Ewigkeit. Endlich hörte er, wie der Professor die Tür seines Arbeitszimmers öffnete und ein paar Begrüßungsworte mit Cara wechselte.
»Herr Saaler?«
Brock trat in den Flur. Jeremy konnte der ernsten Miene des Professors ansehen, dass etwas vorgefallen war. Und in den wenigen Augenblicken, die er brauchte, um zu ihm in sein Büro zu gelangen und sorgfältig die Tür hinter sich zu schließen, damit Cara das Folgende nicht mitbekam, wusste Jeremy, was passiert war.
»Charlotte Rubin ist tot«, sagte Professor Brock leise. »Sie hat sich heute Nacht in der Untersuchungshaft das Leben genommen.«
23
E s war dunkel. Nur die Vögel waren schon wach und sangen, so laut, so ungestört, dass Sanela im ersten Moment nicht wusste, wo sie sich befand. Die Luft, die sie atmete, roch feucht, frisch und satt. Sie lag in dem uralten Bett wie in einer Hängematte. Es gelang ihr nur mit großer Mühe, die schwere Decke zurückzuschlagen und sich hochzuziehen.
Hatte sie einen Kater? Die Beine wollten ihr kaum gehorchen. Sie tastete
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