Das Dorf der Mörder
sich an der Wand entlang bis zum Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Geblendet kniff sie die Augen zusammen. Die Sonne schien. Noch nicht lange, es musste früh am Morgen sein, und über die sonntäglich anmutende Stille – Großstadtohren empfanden das Ausbleiben von Motorenlärm und S-Bahn-Zügen wohl als solche – legte sich das Summen einer Hummel und das leise Rascheln des Windes in den Bäumen. Vor ihr lagen die sanften Hügel und weiten Felder des Flämings. Frühnebelschleier lösten sich aus den Senken. Ein Rudel Rehe verließ gerade den Wald und betrat zögernd die Wiesen, die sich hinter Wendisch Bruch bis an die Raps- und Maisfelder erstrecken. Unschuld und Schönheit, dachte Sanela. Es gibt nichts, was uns so berührt wie der Blick in ein Paradies vor dem Sündenfall. Sie konnte die Apfelbäume sehen und, wenn sie sich weit genug aus dem Fenster lehnte, rechter Hand bestimmt auch die Kirche. Wie spät war es?
Mühsam schleppte sie sich zum Waschbecken, ließ eiskaltes Wasser in die hohle Hand laufen und schlug es sich ins Gesicht. Halb blind erwischte sie ein Handtuch und trocknete sich ab. Erst dann sah sie sich in dem Zimmer um.
Sie hatte in ihren Kleidern geschlafen. Wenigstens war es ihr noch gelungen, die Schuhe auszuziehen. Sie fand sie neben dem Bett, hingeworfen oder von den Füßen geschüttelt – sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wie sie in dieses Zimmer gekommen war, und fühlte sich, während sie sie anzog, wie eine Neunzigjährige. Zitternde Finger, gichtiger Griff. Schwerstarbeit. Was zum Teufel war mit ihr los?
Durch das Haus geisterte Musik. Grane Smo Na Vjetru . Verjazzter, cooler Sound, treibender Bass, die rauchige Männerstimme von Darko Rundek. Ihr Handyklingelton. Hektisch suchte sie nach ihrer Handtasche. Sie riss die Decke hoch, warf sich auf den Boden, um unter das Bett zu sehen, wo sie nur eine Handvoll Staubmäuse aufwirbelte, kam wieder hoch, musste sich abstützen, weil ihr schwindelig war, und lief zur Tür. Wie dämlich konnte man eigentlich sein? Sie musste sie unten liegen gelassen haben. Sie rüttelte mit aller Kraft an der Klinke, bis das verzogene Türblatt endlich mit Schwung aufsprang und an die Wand krachte, und raste die Treppe hinunter.
Die Küche war leer. Auf dem Tisch stand ein Glas Marmelade und ein Korb mit drei Brötchen, darunter ein handbeschriebener Zettel. Guten Apettit . Ihre Tasche lag neben der Spüle. Sie stürzte sich darauf und fand ihr Handy in letzter Sekunde, bevor die Mailbox anspringen würde. Gehring. Scheiße. Verzweifelt fuhr sie sich durch die Haare. Sie wollte den Anruf nicht entgegennehmen, tat es dann, reflexartig, doch.
»Ja?«
»Frau Beara?«
Leugnen zwecklos. »Ja?«
»Sie sind krankgeschrieben. Ich weiß. Trotzdem wollte ich Sie informieren … geht es Ihnen gut?«
»Leidlich.« Zur Bestätigung hustete sie kurz in den Hörer.
»Okay. Also: Frau Rubin hat sich heute Nacht in der JVA das Leben genommen.«
Sie glaubte an einen Scherz. Daran, dass sie sich verhört hätte.
»Was? Was sagen Sie da?«
»Es tut mir leid.«
Sanela ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken. Die Zahnräder in ihrem Gehirn griffen noch nicht richtig ineinander. Es hakte und knirschte beim Denken. Rubin … tot?
»Charlotte Rubin hat sich umgebracht. Da Ihnen der Fall so am Herzen lag, wollte ich Ihnen die Nachricht persönlich überbringen.«
Sie rieb sich über die Augen, als ob das die Denkleistung erhöhen würde.
»Es tut mir leid«, setzte er leise hinzu.
»In der U-Haft? Wie?«
»Mit einer Heftklammer. Die Kollegen in Reinickendorf ermitteln. Vermutlich hat sie das Ding im Büro ihres Gutachters eingesteckt.«
»Eine Heftklammer?« Vielleicht hatte sie sie aufgebogen und geschluckt. Doch selbst bei inneren Verletzungen hätte man Rubin doch noch rechtzeitig finden müssen.
»Ich kann nur das weitergeben, was die Staatsanwaltschaft mir mitgeteilt hat. Es war eine größere Klammer, wie man sie zum Zusammenhalten von dicken Aktenstapeln benutzt. Die Drahtenden sind scharf, und damit hat sie sich die Oberschenkelschlagader zerfetzt. Es muss rasend schnell gegangen sein.«
»Oh mein Gott.«
Er schwieg. Sanela entdeckte eine Thermoskanne neben dem Kühlschrank. Sie stand auf.
»Herr Gehring, das ist … also danke, dass Sie mir das sagen. Ich weiß, das hätten Sie nicht tun müssen.« Keine Antwort. »Aber ich weiß auch, was Sie jetzt vorhaben, und das ist ein Fehler.« Sie hob die Kanne an. Sie war
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