Das Dorf der Mörder
noch Ausdünstungen von Exkrementen, schimmelndem Stroh und vergorenem Futter. Der Raum war sehr lang. In der Mitte rosteten Stahlverankerungen, in denen einmal Pendeltüren gesteckt haben mussten. Der Boden bestand aus Beton. Halb herausgerissene Schienen hatten als Führung der Gussplatten gedient, die wohl schon längst zu einem Schrotthändler gebracht worden waren. Am Ende gab es einzelne Verschläge mit Holzboden, was Sanela auf den ersten Blick wunderte. Auf den zweiten stellte sie fest, dass auch hier Roste verlegt und anschließend wieder entfernt worden waren. Auf ihnen mussten die Abferkelbuchten gestanden haben. Das Holz war rissig, es stank fürchterlich. Vermutlich stammte der Stall noch aus einer Zeit, in der Sauen ihre Ferkel auf Stroh säugten. Später war der Raum mit kümmerlichen Investitio nen auf Rentabilität hochgerüstet worden. Intensivtierhal tung, Turbomast. Glitschige, rutschige Metallböden, auf denen die Tiere sich kaum halten konnten und sich, wenn sie umfielen, gegenseitig erdrückten. Kalte Aufstallungen aus Stahl, die wie Klammern um die Sauen gelegt wurden und sie zur Bewegungsunfähigkeit verdammten. Tierquälerei, die so normal geworden war wie das Kilo Schweinebraten für drei Euro.
Und trotzdem hatte es sich nicht rentiert. Schwarze Spinnweben hingen wie Schleier in den Ecken der Wände, Dreck lag in rußigen Schichten auf jedem noch so kleinen Wandvorsprung. Er betonte die Risse und Konturen, ließ die Unvollkommenheit noch stärker hervortreten. Nur der Geruch zeugte noch davon, dass hier jemand mit wenig Investitionen viel Geld machen wollte und gescheitert war.
Sie verließ den Stall und sehnte sich nach einer Dusche.
»Hallo?«, rief sie. »Ist hier jemand?«
Hummeln summten über wuchernder Schafgarbe. Weit entfernt am Horizont zog ein Flugzeug einen Kondensstreifen über den Himmel. Es musste in Schönefeld gestartet sein. Ganz schwach war sein Motorenlärm noch zu vernehmen. Oder war es die Autobahn? Ein Traktor weit weg auf den Feldern? Sonst war es still. Totenstill.
Sie sah das Haus. Ein schmuckloser grauer Kasten. Die Fenster waren blind vor Schmutz und Staub. Dort, wo sie das Wohnzimmer vermutete, hing eine halb heruntergerissene Gardine. Der Putz wies auf ein depressives Verhältnis der Vorbesitzer zu Farbe oder auf die Mangelwirtschaft der letzten DDR -Jahre hin. Zwei Stufen führten zum Eingang, gelb gefliest. Es gab keine Klingel.
Der Abstand zwischen Haus und Straßenfront wurde als Unterstand genutzt, vermutlich für Nutzfahrzeuge, einen Traktor oder die Autos der Besitzer. Aber es schien keine Besitzer mehr zu geben. Schon lange nicht mehr, schoss es ihr durch den Kopf. Sie blieb unschlüssig stehen. Gehrings Warnung stand wie ein unsichtbares Stoppschild direkt vor ihr. Sie hatte keinen Ermittlungsauftrag. Sie war eine krankgemeldete Streifenpolizistin – Attest besorgen!, blinkte in ihrem Hirn –, die sich unerlaubterweise in Charlies Heimatkaff herumtrieb und Fragen stellte. Wahrscheinlich wusste die gesamte Achterbande von Wendisch Bruch schon längst, warum sie hier war.
Nur sie nicht.
Was zum Teufel trieb sie dazu, ihren Aufstiegsvermerk aufs Spiel zu setzen? Warum war Charlies Tod nicht auch für sie der Moment, den Fall zu den Akten zu legen? Die Sonne brannte auf die verwitterten Bodenplatten, zwischen denen das Unkraut hervorschoss. Sie schloss die Augen und glaubte den Geruch zu riechen, der manchmal noch durch die Ritzen ihres Unterbewusstseins in ihre Alpträume kroch. Pulver. Blut. Exkremente. War das der Donner eines nahenden Gewitters oder das Dröhnen der Panzer der Jugoslawischen Volksarmee, die heranrollten? Maschinengewehrsalven. Schreie. Jemand riss sie weg, hinein in die Trümmer eines Hauses. Ein Mann in zerfetzter, blutbefleckter Uniform. Er beugte sich zu ihr herab.
Sei still. Kein Ton. Sonst bist du tot.
Sie riss die Augen auf und stand noch immer in dem verlassenen Hof. Weit hinten am Horizont ballten sich blasse Wolken. Der Himmel wechselte die Farbe. Das dunstige Blau verdichtete sich zu Grau. Ein Windstoß trieb trockene Blätter vor sich her, spielte mit ihnen, ließ sie im Kreis tanzen.
Sanft strich sie sich über die Kehle. Schweiß sammelte sich in ihrem Nacken und zwischen den Schulterblättern. Sie sah auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass es nach Walburgas Zeitrechnung Mittag war und der Braten bestimmt schon auf dem Tisch stand. Sie drehte sich um und ging zum Ausgang. Aus den Augenwinkeln war ihr, als
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