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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Sanelas Blick blieb an einer altmodischen Uhr mit Küchenwecker hängen. Halb elf. Hier wurde ja ziemlich früh gegessen. Sie beschloss, sich den Hunger dafür anzulaufen, und verließ den stillen Gasthof, der an diesem Tag durch den Bratengeruch eine ganz andere, viel freundlichere Atmosphäre bekommen hatte.
    Ihr Auto stand noch dort, wo sie es abgestellt hatte. Sie öffnete die Motorhaube und vertiefte sich in den rätselhaften Anblick, der sich ihr bot. Sie wusste nicht, ob sie beobachtet wurde. Wenn ja, untermauerte sie mit dieser kleinen Theatervorstellung den offiziellen Grund ihrer Anwesenheit. Sie klappte die Haube wieder zu, wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab und sah sich um.
    Die Straße war leer. Der Verfall einzelner Häuser raubte selbst denen, die noch bewohnt waren, den Rest von Würde. Als ob eine ansteckende Krankheit über Wendisch Bruch hereingebrochen wäre, eine rätselhafte Epidemie, der man resigniert bei der Ausbreitung zusah. Die Gärten verwahrlosten. Bäume wurden nicht mehr beschnitten. Graffiti zierten die betongrauen Wände des Bushäuschens. Der Pfahl, an dem einmal ein Fahrplan gehangen haben musste, häutete sich geradezu. Rost blähte die verblichene Farbe zu Blasen auf, bis sie platzten.
    Sie schickte ihrem Vater eine SMS , dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte, weil sie von KHK Gehring mit einer wichtigen Ermittlung beauftragt worden war, und lenkte dann, ohne zu wissen, warum, ihre Schritte Richtung Ortsausgang. Als sie das schiefe Straßenschild erreichte, hatte sie genug gesehen, um zu wissen, dass dieses Dorf nicht mehr auf die Beine kommen würde. Was würde geschehen, wenn die letzten Bewohner gestorben oder fortgezogen waren? In großen Städten hatte man begonnen, die verwaisten Plattenbauten abzureißen und ganze Stadtviertel zu »renaturieren«. Kämen die Bulldozer? Die Planierraupen? Machten Sprengmeister die letzten Überbleibsel menschlicher Zivilisation dem Erdboden gleich? Überließe man den Rest der Natur, die unendlich langsam, aber gründlich ihr Terrain zurückerobern würde? Wie lange würde es dauern? Zwanzig Jahre? Fünfzig Jahre?
    Sie blieb mitten auf der Straße stehen. Auf ihr könnte man picknicken. Vielleicht kam einmal die Woche noch das Postauto. Und ab und zu ein verschreckter Elektriker, um kaputte Kabelanschlüsse zu reparieren und danach so schnell wie möglich das Weite zu suchen.
    Das Tor zum Aussiedlerhof stand einen Spalt offen. Sie konnte sich nicht erinnern, ob das bei ihrer Ankunft auch schon so gewesen war. Sie holte ihr Handy heraus und rief Gehring an, aber er ging nicht ans Telefon. Hatte wahrscheinlich Besseres zu tun, als sich um ihre Hirngespinste zu kümmern. Es war ein schöner sonniger Tag. Auch wenn in der Luft schon eine leichte Schwüle zu ahnen war. Für den Nachmittag hatte der Wetterbericht Wärmegewitter vorhergesagt.
    Bei Licht betrachtet, und dazu noch mit der Erinnerung an etwas so Normales wie den Duft von Rinderbraten in der Nase, war Wendisch Bruch nicht unheimlich, sondern nur schäbig. Sein Reiz, wenn es je einen besessen hatte, lag in der Natur, die das Dorf in verschwenderischer Schönheit in die Arme nahm. Direkt neben dem Hof lag ein Rapsfeld. Die Pflanzen waren in die Höhe geschossen und abgeblüht. Gegenüber endeten die aufgegebenen Äcker am Hang eines sanft ansteigenden Hügels, auf dem sich reifendes Korn in einem leichten Sommerwind wiegte und Mais wie Schilf in die Höhe geschossen war.
    Der Bürgersteig endete schon ein Stück vor der Einfahrt, die mit nachlässig vergossenem Beton befestigt war. Sanela öffnete das Eisentor und betrat den Innenhof. Sie registrierte eine Länge von circa fünfzig und eine Breite von circa dreißig Metern. Abgegrenzt war er von einer nachträglich hochgezogenen, unverputzten Mauer aus weißen Steinen. Aus den Fugen quoll an manchen Stellen Beton. Linker Hand lag ein Stall- oder Wirtschaftsgebäude. Auf der rechten Seite stand ein niedriges Wohnhaus, vielleicht in den sechziger Jahren modernisiert.
    Sanela beschloss, sich als Erstes den Stall näher anzusehen. Sie trat durch eine schief in den Angeln hängende Tür. Ihr fehlten einige Latten, sodass das Licht von draußen schräg in den leeren Raum fiel. Sonnenstäubchen tanzten in den Strahlen, sie kreuzten sich im Lichteinfall der hohen, schrägen Fensterlöcher. Es roch süßlich, und sie erinnerte sich daran, dass die Schweineställe ihrer Kindheit einen ähnlichen Geruch verströmt hatten. Dazu kamen

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