Das Dorf der verschwundenen Kinder
schaffe?«
»Ich nehme mal an, daß es auf jeden Fall besser ist, als mir von dir die Tür eintreten zu lassen. Aber morgen abend werde ich selbst noch spät unterwegs sein. Auch in Danby. Morgen ist das erste Konzert des Festivals.«
»Das hab ich nicht vergessen«, sagte er. »Smörebröd und die kleine Wulfstan. Ich hab über sie nachgedacht.«
»Ich auch«, sagte Cap. »Tatsächlich habe ich mehr getan, als nur nachdenken. Ich habe geredet. Mit meiner Freundin Beryl – du weißt schon, der Schulleiterin in London …«
»Ah ja. Eine deiner Spinnen im weltweiten Internetz.«
»Danke, danke. Na ja, sie hat angerufen, und im Verlauf unseres Gesprächs erwähnte ich natürlich auch Elizabeth Wulfstan …«
»Du hast sie ausgequetscht!« rief Dalziel erfreut. »Ich wußte immer, daß du ein Naturtalent bist.«
»Was sie mir erzählt hat, war jedenfalls höchst interessant«, fuhr Cap unbeirrt fort. »Und da ich keine Verbindung zu deinen Ermittlungen sehe, werte ich es als reinen Tratsch, den ich ohne Zögern weitererzählen kann. Über Elizabeths Vergangenheit. Beryl wußte, daß sie tatsächlich eine entfernte Verwandte von Chloe Wulfstan war … Was ist los?«
»Radau«, sagte Dalziel.
»Bitte?«
»Radau. Bedeutet viel Wirbel und Krach. Der Bauer heute nacht hat das Wort benutzt. Und er stammt aus Dendale. Da hat’s bei mir geklingelt, denn da hab ich das Wort als einziges gehört.«
»Das ist mir jetzt zu sprachwissenschaftlich«, sagte Cap ungeduldig. »Soll ich weitererzählen?«
»Die kleine Wulfstan hat es auch gesagt«, fuhr Dalziel fort. »Und Fettbrocken. Noch ein Wort aus Dendale. Sie hat mich ’n Fettbrocken genannt. Entweder zieht sie ’ne Show ab, oder sie ist tatsächlich aus Dendale! Und verwandt mit Chloe, sagst du?«
Er versuchte, das Bild einer großen, schlanken Frau mit schulterlangem blonden Haar auf das Bild eines kleinen, dicklichen Kindes mit stoppelkurzem schwarzen Haar zu übertragen. Doch es fiel schwer …
»Soll ich weitererzählen?«
»Ja. Was ist passiert?«
»Na ja, es war eigentlich eine ziemlich traurige Geschichte, obwohl alles noch mal mehr oder weniger gut gegangen ist. Als sie auf die Schule kam, war Elizabeth anscheinend zunächst ein recht unattraktives, dickliches Kind mit kurzen schwarzen Haaren … Andy, ich wünschte, du würdest nicht so herumzucken. Ist das wiederaufkeimende Leidenschaft oder Delirium tremens, oder was?«
»Erzähl einfach weiter«, drängte er.
»Aber dann vollzog sich ein Wandel. Sag mal, war Wulfstans echte Tochter, die dann vermißt wurde, schlank und blond?«
»Ja, war sie«, sagte Dalziel. »Und sehr hübsch.«
»Tja, dem wollte Elizabeth anscheinend nacheifern. Jedenfalls nahmen alle das an. Daß sie versucht, sich in das Mädchen zu verwandeln, das ihre Adoptiveltern verloren hatten. Sie fing an abzunehmen, aber niemand achtete weiter darauf. Pubertierende Mädchen machen alle möglichen Veränderungen durch. Und sie ließ sich die Haare wachsen. Nur hatten sie eben die falsche Farbe. Und da geschah die Tragödie, oder Beinahe-Tragödie. Eines Abends schloß sie sich mit einer Flasche Bleichmittel im Badezimmer ein und wollte ihr Haar blondieren. Das Ergebnis war verheerend. Zum Glück hörte Chloe sie schreien und zerrte sie unter die Dusche, aber ihre Kopfhaut war bereits schwer geschädigt. Sie konnte von Glück reden, daß sie nichts in die Augen bekommen hatte. Und als sie im Krankenhaus lag, stellten sie fest, daß sie nicht nur ihren Babyspeck verloren hatte, sondern schwer magersüchtig war.«
»Ich wußte es!« rief Dalziel. »Von Anfang an. Zuerst dachte ich, sie will mich verhohnepipeln, weil sie so redet. Und selbst, als ich merkte, daß sie’s nicht tat, hatte ich immer das Gefühl, daß sie sich insgeheim über mich lustig macht. Weil ich sie nicht erkannt habe.«
»Du kanntest sie also? Woher? Wie?«
»Aus Dendale«, sagte Dalziel. »Sie war das letzte Mädchen, das angegriffen wurde, die einzige, die davonkam. Sie war die kleine Betsy Allgood.«
Zehn
BETSY ALLGOOD ( PA / WW /18.6.88)
Protokoll/Abschrift 3
Nr. 2 von 2 Kopien
W ie ich gesagt hab: ich dachte, alles würde für immer gut werden.
Wenn alles gut wird, würden Schafe Gummistiefel tragen, hat mein Vater immer gesagt.
Aber das tun sie nicht. Und Dad kriegte auch nicht Stirps End.
Als wir hörten, daß Mr. Hardcastle den Hof bekommen hatte, wollte Dad sofort los und mit Mr. Pontifex reden. Aber Mam stellte sich vor die Tür und
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