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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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Wulfstans.
    Dalziel blickte zum Kirchturm hinauf, nickte beifällig und marschierte weiter.
    Am Haus Nummer 41 lehnte er sich eine gute Sekunde auf die Türklingel, trat einen Schritt zurück und wartete.
    In den frühen Zeiten dieser Nobelbehausungen, so vermutete er, waren die Türen sicher von Dienstmädchen mit Haube und Schürze geöffnet worden, aber heutzutage gab es Hausangestellte nur noch selten. Wahrscheinlich deshalb, weil die Leute, die solche Arbeit nötig hatten, nicht vor den Leuten zu buckeln bereit waren, die solche Arbeit vergeben konnten.
    Die Frau, die ihm nun die Tür öffnete, erkannte er sofort wieder, obwohl es fünfzehn Jahre her war, daß sie sich zuletzt gesehen hatten.
    Und an ihrem Gesicht sah er, daß auch sie ihn wiedererkannte.
    »Mr. Dalziel«, sagte Chloe Wulfstan.
    Das Alter hatte sie nicht sehr verändert. Tatsächlich wirkte sie viel jünger als beim letzten Mal, aber das war kaum verwunderlich. Damals hatte die Nachricht über den Tod der Tochter ihr nicht nur das Blut aus dem Gesicht weichen lassen, sondern ihren gesamten Körper ausgezehrt. Doch Dalziel hatte sie nie weinen sehen, und irgendwie wußte er, daß sie auch im stillen nie geweint hatte. Sie hatte all ihre Kraft zusammengenommen, um weiterleben zu können, auch wenn sie dazu alles Leid in ihrem Innern einschließen mußte.
    Zu lamentieren hatte keinen Sinn.
    Er sagte: »Es tut mir leid, Sie zu stören, Mrs. Wulfstan. Sie haben sicher von dem Mädchen gehört, das in Danby vermißt wird.«
    »Es kam im Radio«, antwortete sie. »Und in der Zeitung heute morgen. Gibt es etwas Neues?«
    Ihr Stimme war ruhig, formell und höflich, als wäre er der Vikar, der zum Tee eingeladen wurde. Dalziel erinnerte sich, daß man vor fünfzehn Jahren noch einen kleinen Akzent in ihrer Stimme hatte heraushören können, einen Hinweis auf ihre ländliche Herkunft. Sie hatte gebildet geklungen, aber eben auch wie ein Mädchen aus Mid-Yorkshire. Inzwischen war das ganz verschwunden. Sie hätte ein aktuelles Frauenmagazin im Fernsehen moderieren können.
    Über ihre Schulter hinweg sah er den Hausflur mit Drucken musikalischer Szenen an den Wänden. Die breite Treppe hinunter erklangen Klaviertöne und der Gesang einer Frau.
    »When your mother dear to my door draws near,
And my thoughts all centre there to see her enter
Not on her sweet face first of falls my gaze
But a little past her …«
    Es ertönte eine Dissonanz, als hätte jemand mit der ganzen Hand auf die Tastatur geschlagen, und eine Männerstimme sagte: »Nein, nein. Zuviel, zu früh. An dieser Stelle versucht er immer noch, ganz ruhig zu bleiben, ganz rational im Hinblick auf sein irrationales Verhalten.«
    Diese Stimme. Dalziel glaubte sie zu erkennen. Eigentlich beide Stimmen. Die Frau hatte er gestern morgen bei den Pascoes im Radio singen hören. Auch diese verdammten Lieder. Er erinnerte sich an das erste Mal, da er sie gehört hatte … Doch er konzentrierte sich wieder auf die Männerstimme. Dieses allzu perfekte Englisch. Das war bestimmt dieser Smörebröd. Obwohl Wield ihn immer wieder darauf hingewiesen hatte, daß Arne Krog Norweger und kein Schwede war, hatte Dalziel den dummen Spitznamen beibehalten. Dieser gelackte Pinsel hatte einst gewagt, sein Englisch zu korrigieren, und Dalziel war kein Gott der Vergebung.
    »Mr. Dalziel?« riß Chloe Wulfstan ihn aus seinen Gedanken.
    Er merkte, daß er ihre Frage nicht beantwortet hatte.
    »Nein. Nix Neues«, sagte er.
    »Das tut mir leid. Wie geht es … nein, das brauche ich nicht zu fragen.«
    »Den Eltern? Wie zu erwarten. Die Mutter kennen Sie wahrscheinlich. Stammt auch aus Dendale. Elsie Dacre, geborene Coe.«
    »Margaret Coes Tochter? Ach nein! Margaret war letztes Jahr sehr krank. Ihre Genesung war wie ein Wunder. Jetzt frage ich mich, ob es nicht ein Fluch war. Ist es schlecht, so etwas zu sagen, Mr. Dalziel?«
    Er zuckte gleichmütig mit den Schultern. Daß er nicht gewillt war zu urteilen, bedeutete allerdings nicht, daß er sich nicht für kompetent hielt.
    Nachdenklich fuhr sie fort: »Ich hatte mich daran gewöhnt, schlimme Dinge zu denken, wissen Sie. Wenn ich die mitleidigen Gesichter sah, von Frauen wie Margaret Coe, dann dachte ich immer: im Grunde bist du doch froh, daß es mich getroffen hat und nicht dich – daß meine Mary verschwunden ist und nicht deine Elsie oder …«
    Sie hielt inne, als habe sie jemand an ihre Pflichten als Gastgeberin erinnert, und sagte abrupt: »Wollten Sie

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