Das Dorf der verschwundenen Kinder
Redefluß beruhigte Ellie, obwohl sie merkte, daß genau dies der Zweck der Übung war. Miss Martindale war eine kluge junge Frau. Nein, mehr als das. Ellie kannte eine Menge kluger junger Frauen, aber Miss Martindale gehörte zu der seltenen Sorte, von der sie sich immer kritisiert fühlte. Nicht, daß sie in Konkurrenz standen, aber bei den seltenen Gelegenheiten, wo sie die Klingen kreuzten, war es jedesmal Ellie, die nachgab.
Sie hatte versucht, es Peter zu erklären, aber der meinte nur: »Was für Pillen sie auch schluckt – ich würde gern die Marke wissen.«
Rosie saß unter den wachsamen Augen der enorm mütterlichen Schulsekretärin in dem kleinen Krankenzimmer auf der Bettkante.
Als sie ihre Mutter erblickte, rief sie anklagend: »Ich hab euch doch gesagt, daß ihr mich nicht zur Schule schicken sollt.«
Danke für die Blumen, mein Kind, dachte Ellie.
Sie nahm Rosie kurz in den Arm und musterte sie dann aufmerksam. Ihr Gesicht war tatsächlich sehr gerötet.
»Geht es dir nicht so gut, mein Schatz?« fragte sie und versuchte, sachlich zu bleiben. »Im Bett bist du wohl am besten aufgehoben. Ich bring dich nach Hause.«
Sie dankte Miss Martindale, die aufmunternd lächelte, doch von der Sekretärin, die sie ganz offensichtlich zu der Sorte Mütter zählte, die ihr krankes Kind lieber zur Schule schickt, als ihre gesellschaftlichen Verabredungen abzusagen, erntete sie nur einen vorwurfsvollen Blick. Ellie schluckte und schenkte ihr ein liebenswürdiges Lächeln.
Auf dem Nachhauseweg plauderte sie munter drauflos, doch Rosie antwortete kaum. Im Haus sagte Ellie: »Marsch ins Bett. Dann bring ich dir was Kaltes zu trinken, ja?«
Rosie nickte und ließ sich von ihrer Mutter das Kleid aufknöpfen, was sie seit Monaten schon nicht mehr ohne »Ich kann das selbst«-Protestgeschrei zugelassen hatte.
In der Küche schenkte Ellie ein Glas selbstgemachte Limonade ein. Sie überlegte kurz und füllte dann ein weiteres Glas. Bettlägerigkeit bedingte mildernde Umstände.
»Hier, bitte schön«, sagte sie zu Rosie. »Für Nina hab ich auch ein Glas mitgebracht, falls sie durstig wird.«
»Hörst du mir denn gar nie zu?« erwiderte Rosie beleidigt. »Ich hab’s dir doch schon hundertmal gesagt. Nina ist wieder in der Höhle vom Nix. Ich hab gesehen, wie er sie geschnappt hat.«
Ihr vehementer Protest schien im ersten Moment ein gutes Zeichen, doch danach war das Mädchen sichtlich geschwächt. Sie nippte nur einmal kurz an ihrem Glas und sank dann in die Kissen zurück.
»Ich laß es ihr trotzdem da«, meinte Ellie fröhlich. »Vielleicht hat sie ja Durst, wenn ihr Vater sie gerettet hat.«
»Sei nicht albern«, murmelte Rosie. »Das war doch letztes Mal.«
»Letztes Mal?« fragte Ellie, während sie das dünne Laken über dem kleinen Körper glattstrich. »Aber das ist doch nur ein Mal passiert, oder, mein Schatz?«
Einen Augenblick lang betrachtete Rosie sie mit mütterlichem, liebevoll-verzweifelten Gesichtsausdruck. Dann schloß sie die Augen.
Ellie ging nach unten. War es notwendig, den Arzt anzurufen? Während sie bereit war, für ihre Rechte im Gesundheitswesen auf die Barrikaden zu gehen, war sie dennoch stets entschlossen, nicht zu den Müttern zu gehören, die bei jedem Schluckauf gleich Antibiotika verlangten.
Sie machte sich eine Tasse Tee und ging ins Wohnzimmer. Der CD -Spieler war an, und die Pausentaste leuchtete. Sie hatte gerade ihre neue Mahler- CD gehört, als Miss Martindale anrief.
Das größere Paket lag noch immer ungeöffnet da.
Es gab wohl kaum einen geeigneteren Moment, um seine literarischen Ambitionen in die richtige Perspektive zu rükken, als nach dem Versorgen des eigenen kranken Kindes. Dies war der richtige Augenblick, den Schlag ins Gesicht hinzunehmen.
Sie zerriß das Papier und nahm ihr Manuskript heraus. Angeheftet war ein Brief.
… vielversprechend, aber bei der derzeitigen Stimmung … schlechte Zeiten für Romane … mit dem größten Bedauern … bla bla bla …
Die Unterschrift war unleserlich. Kann man ihnen nicht verübeln, dachte Ellie. In diesem Beruf waren Mordanschläge bestimmt eine ernstzunehmende Gefahr. Selbst sie, mit immer noch rosigen Zukunftsperspektiven, spürte den schmerzvollen Stich der Ablehnung. Vielleicht bin ich einfach auf dem Holzweg? Welche Leserin will, zum Teufel, etwas über das angstvolle Leben einer Frau am Ende des zwanzigsten Jahrhundert lesen, wenn es doch genau ihrem eigenen Leben entspricht? Möglicherweise sollte
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