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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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ich etwas ganz anderes versuchen … einen historischen Roman vielleicht? Sie hatte sich ihrer Vorliebe für historische Romane immer ein wenig geschämt, da sie diese Art der Literatur als Flucht aus der rauhen Wirklichkeit des Lebens verurteilte. Aber Briefe wie dieser waren, verdammt noch mal, ein Aspekt der rauhen Wirklichkeit, dem sie nur allzu gern entfliehen würde!
    Nachdenklich ergriff sie die CD -Fernbedienung und drückte die Starttaste.
    »At last I think I see the explanation
Of those dark flames in many glances burning.«
    Es war das zweite der »Kindertotenlieder«. Sie atmete tief durch und ließ die kräftige junge Stimme über sich hinwegschallen.
    »I could not guess, lost in obfuscation
Of blinding fate …«
    Obfuscation
 – Verfinsterung! Kein schönes Wort. Aber sie empfand Mitleid mit der Übersetzerin. Im Gegensatz zu anderen europäischen Sprachen mit ihren vielen Flexionsformen hatte das Englische wenig weibliche Reime, die zudem auch noch oft leicht belustigend klangen. Hier jedoch nicht – nicht mit der tragischen Macht dieser Musik.
    »… even when your gaze was homeward turning,
Back to the source of all illumination.«
    Was brachte einen Komponisten dazu, sich für die Vertonung eines bestimmten Gedichts zu entscheiden? In der kurzen Einführung zu den Liedern hatte sie gelesen, daß Alma Mahler die Besessenheit ihres Mannes von diesen elegischen Liedern sehr zuwider war, weil sie abergläubisch fürchtete, daß er das Schicksal in Versuchung führen könnte, seine eigene Familie heimzusuchen. Das war zwar irrational gewesen, aber Ellie konnte es sehr gut nachempfinden, da sie sich an ihr eigenes impulsives Bedürfnis erinnerte, alle Verkehrsregeln zu brechen, um möglichst schnell in Edengrove zu sein – und das trotz Miss Martindales Beteuerungen, daß nichts Schlimmes passiert sei.
    Und es war doch auch nichts Schlimmes, oder? Nicht, wenn Miss Martindale es sagte. Anscheinend hatten all ihre Bemühungen, dem Stereotyp der hysterischen, überängstlichen Mutter zu entgehen, nichts genützt, denn genau so fühlte sie sich jetzt – wie Alma Mahler … Nur, daß Alma Mahler recht gehabt hatte, oder nicht? Wie mußte sie sich an ihre Ängste erinnert und sich gewünscht haben, sie hätte vehementer protestiert, als einige Jahre später die älteste Tochter an Scharlach starb!
    »These eyes that open brightly every morning
In nights to come as stars will shine upon you.«
    Die toten Augen als Sterne. Und das sollte als Trost gemeint sein? Sie unterbrach die melancholische Orchesterbegleitung per Knopfdruck, griff nach dem Telefon und wählte Jill Purlingstones Nummer.

Neun
    D as Highcross Inn hatte einst eine erstklassige Lage gehabt, als Kutscher, Viehtreiber, Reiter und Wanderer zum langen Weg übers Moor nach Danby dort noch die letzte Stärkung einnahmen, während die Ankömmlinge aus entgegengesetzter Richtung sich ihre belohnende Erfrischung gönnten. Mit der Erfindung des Verbrennungsmotors änderte sich das alles. Was früher anstrengend gewesen war, war heute leicht, und die meisten Reisenden auf der Straße zum Highcross Moor benutzten den Weg nur als Abkürzung zur vielbefahrenen Nord-Süd-Tangente.
    Äußerlich hatte sich das Pub in den zweieinhalb Jahrhunderten nur wenig verändert – abgesehen von den Werbeschildern für gutes Bier und dicke Pfannenpizza sowie der Erwähnung in einem dubiosen Reiseführer von einem gleichermaßen dubiosen Journalisten, der sich als Yorkshire-Experte bezeichnete, obwohl er mit achtzehn nach London gezogen und nur zweimal zu Familienbegräbnissen in die Gegend zurückgekehrt war. Tatsächlich sah der bröckelnde Anstrich teilweise so aus, als sei er noch der erste, aber das konnte auch am langen heißen Sommer liegen.
    Im Innern allerdings hatte sich einiges verändert. Vermutlich hatte es irgendwann einmal so ausgesehen, wie ein altes Country Pub eben aussieht. Dann beschloß irgendein oberschlauer Gastwirt, es müsse so aussehen, wie sich irgendein abgehobener Designer ein altes Country Pub vorstellt. Das Echte und Ursprüngliche wurde hinaus- und das Künstliche und Anonyme hereingeschafft, so daß ein standfester Trinker heute hin und wieder vor die Tür treten mußte, um sich ins Gedächtnis zu rufen, wo er denn trank.
    Novello gefiel es so ganz gut. Sie war jung und kam aus der Stadt, und die Pubs in ihrer Gegend sahen fast alle so aus. Sie setzte sich an die Theke und bestellte ein Bier und schwarzen

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