Das Dornenhaus
Ihre Bekanntschaft mit dem Jungen war nur so kurz gewesen, und doch spürte sie, dass er einen besonderen Platz in ihrem Leben einnahm.
Das Gefühl der Ruhe und Heiterkeit, das sie vor so langer Zeit in diesem fremdartigen und exotischen indischen Miniaturpalast empfunden hatte, war verschwunden. Jetzt lag hier etwas in der Luft, das zutiefst beunruhigend war.
Odette saß auf dem Rand des thronartigen Betts, ließ ihre Beine baumeln und betrachtete den gemusterten Marmorboden, als ein plötzliches Gefühl der Furcht sie ganz steif werden ließ. Ohne sich zu bewegen, ohne sich umzudrehen, ohne tatsächlich ein Geräusch zu hören, wusste sie, dass sie nicht allein im Raum war. Ihre Beine schwangen langsam aus, ihre Finger klammerten sich an den hölzernen Bettrahmen, und ihr Rücken versteifte sich vor Anspannung. Jetzt hörte sie ein schwaches Geräusch, wusste aber, dass es keine huschende Ratte oder das Flattern eines gefangenen Vogels war. Sie spürte einfach eine Präsenz, konnte aber ihr Gesicht nicht der dunklen Ecke des Raumes zuwenden, in der sie das Unbekannte vermutete.
Mit erheblicher Anstrengung rutschte sie vom Bett und machte mühsame kleine Schritte auf die Tür zu, mit immer noch angespanntem Körper, so als erwartete sie jeden Moment eine Berührung oder einen Schlag von hinten. Sie erreichte die geschnitzte Tür und konnte das Sonnenlicht und das Strauchwerk des Gartens sehen, aber bevor sie darauf zugehen konnte, hörte sie hinter sich ein leises Seufzen, ein Stöhnen.
Odette blieb zögernd bei der Tür stehen, ihre Füße waren wie am Boden festgeklebt. Das Geräusch hypnotisierte sie beinahe. Es war die Stimme einer Frau, so traurig, so verloren, so flehend. Dieser Atemhauch war ein Ruf nach Hilfe.
»Nein!« Odette rannte los, stürzte durch die Tür, stolperte die Stufen hinab und über den dicht mit Gänseblümchen bewachsenen Rasen.
Sie rannte weiter, bis sie den Pfad zum Bootshaus erreichte, und blieb dann stehen, um zu Atem zu kommen. Was hatte sie so erschreckt? War es Einbildung gewesen? Nein. Sie wusste, dass ihre Vorstellungskraft ihr keinen Streich spielte. Da war ein Geräusch gewesen … eine Präsenz – die einer Frau.
Also gab es einen Geist im indischen Haus. Odette fürchtete sich nicht mehr. Die Frau hatte sich aus irgendeinem Grund an sie um Hilfe gewandt. Aber wer war sie und was wollte sie?
Odettes Gedanken purzelten wirr durcheinander, während sie die Ruder des kleinen Bootes mit kräftigen Schlägen durchzog. Aber aus all der Verwirrung trat eine Überzeugung deutlich hervor – irgendwie musste sie das Rätsel um Zanana lösen, eines Hauses, das von Erinnerungen erfüllt und von vergessenen Rosen umgeben war.
Kapitel dreizehn
Zanana 1918
W ally Simpson öffnete die Augen und sah einen Engel. Das wunderschöne Gesicht des Engels war von einer weißen Aureole umgeben und lächelte friedvoll auf ihn herab.
Das verschwommene Bild wurde klarer, und er sah, dass der Engel leicht schielende blaue Augen und etwas schiefe weiße Zähne hatte. Gleichzeitig wurde er sich schmerzlich seines eigenen Körpers bewusst. Ihm tat alles weh, und er verspürte einen brennenden Schmerz. Er verzog das Gesicht, versuchte den Arm zu heben und fragte sich, wo er war. Was war das Letzte, an das er sich erinnerte? Ach ja, Schlamm und Krach und Schreie und Rufe.
Eine kühle Hand berührte sein Gesicht, und eine ruhige Stimme mit einem vertrauten Akzent sagte leise: »Liegen Sie still, Sie sind ziemlich schwer verwundet worden. Aber das wird schon wieder.«
Erneut sah er zu seinem Engel auf. Weiche braune Haarsträhnchen lugten unter dem raschelnden weißen Tuch hervor, das von einer kleinen Haube aus über ihren Rücken fiel. Ihre gestärkte weiße Tracht, die ihr bis zu den Knöcheln reichte, trug sie über einer langärmeligen, blauen, hochgeschlossenen Bluse. Ein kurzes rotes Cape lag um ihre Schultern, und auf der weißen Binde an ihrem Arm befand sich ein schlichtes rotes Kreuz.
»Wo bin ich?«
»Im Feldlazarett in Almantiers. Wenn Sie kräftig genug sind, werden Sie zurück nach Hause transportiert.«
»Sie sind Australierin? Was machen Sie so weit weg von zu Hause?«
Sie lächelte. »Wir gehen dorthin, wo wir gebraucht werden. Hier, trinken Sie einen Schluck Wasser, und ruhen Sie sich aus. Wir unterhalten uns später weiter. Ich bin froh, dass Sie wach sind.« Sie hob ein Glas an seine Lippen, und Wally trank, sank zurück auf sein schmales Bett und nahm zum ersten Mal
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