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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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dir, Zac. Für alles.«
    Beim Abstieg sickerte das Morgenlicht durch den Wald von Eukalyptusbäumen, Brushbox und Blackbutt, und sie entdeckten einen Kurzkopfgleitbeutler, der sich in der Nacht an Früchten gütlich getan hatte und auf dem Weg zu seinem Schlafplatz war, wo er sich kopfunter an einen Baum hängen würde. Der Morgengesang der Bergvögel hatte die Luft mit lauter Musik erfüllt, und jetzt sahen sie sie zwischen den Ästen hindurchschießen. Ein fettes, unbekümmertes Talegallahuhn trippelte vor ihnen her. Als sie einen ungewöhnlichen Ruf und ein kratzendes Geräusch hörten, schoben Zac und Odette ein paar Blätter zur Seite und sahen auf einer kleinen Lichtung einen braunen Vogel, der eifrig Blätter zu einem Haufen zusammenkratzte.
    »Das ist ein Albert-Leierschwanz. Sie haben nicht den großen, harfenförmigen Schwanz, aber sie sind sehr selten. Es ist ein glückliches Omen, einen zu sehen«, flüsterte Zac.
    Sie brauchten viel länger als zwei Stunden für den Rückweg, und wenn da nicht die Verlockung von heißem Tee und Toasts im Murwillumbah-Café gewesen wäre, hätte Odette am liebsten den ganzen Tag im Busch verbracht. Aber das Café musste noch warten.
    Als sie durch den Regenwald gingen, der den unteren Teil des Berges bedeckte, griff Zac nach ihrer Hand und führte sie vom Pfad weg in das dichte Unterholz. Sie traten in eine andere Welt ein. Die Zeit hörte auf zu existieren, Jahrhunderte schienen unter diesen uralten, zum Himmel aufragenden Bäumen zu bloßen Sekunden zusammenzuschrumpfen. Moosbedeckte Ranken bildeten Vorhänge zwischen den Bäumen, die selbst mit Flechten, Moosen und Schmarotzerpflanzen bedeckt waren. Auf den vermodernden Überresten umgefallener Stämme wuchsen Farne und schillernde, seltsam geformte Pilze. Das einsickernde Licht war grün und neblig, und der durchdringende Geruch nach vermodernder Vegetation, feuchter Erde und langsamem, ständigem Wachstum war stark und süß.
    »Wie die Kulisse für einen Märchenfilm. Nur besser«, sagte Odette mit plötzlich vor Bewegung erstickter Stimme. Sie hatte das Gefühl, gleich in Tränen ausbrechen zu müssen. »Könntest du noch ein letztes Mal klettern? Ich möchte dir ein Geheimnis zeigen.«
    »Klettern? Meine Beine sind wie Gummi. Wohin soll ich klettern?«
    Zac deutete ins Blätterdach hinauf. »Dorthin.«
    Er führte sie an der Hand zu einem erstaunlichen Baumstamm.
    Für Odette sah er aus wie eine Filigransäule, die in den Himmel aufragte. Ein kreuz und quer verlaufendes Geflecht alter Schlingpflanzen bildete so etwas wie eine Spalierleiter.
    »Was ist das?«
    »Eine Würgerfeige. Ein Vogel hat einen Samen in die Zweige des Baumes fallen lassen, der hat gekeimt, hat einen Schössling nach unten geschickt, wo dann weitere Schösslinge um den Wirtsbaum wuchsen. Der erwürgte Baum verrottete schließlich und ließ die Feige mit einem hohlen Inneren zurück. Schau, das ist eine regelrechte Leiter. Folg mir. Ich bin schon oft da raufgeklettert.«
    Er half ihr auf den Baum. Odette war erstaunt, wie kräftig die Ranken waren. Langsam folgte sie Zac dieses seltsame Klettergerüst hinauf.
    »Schau nicht nach unten«, rief Zac über die Schulter und sah, dass Odette vorsichtig ihre Hände und Füße genau in seinen Spuren platzierte.
    Sie kletterten an den Baumfarnen vorbei, bis sie etwa sechs Meter über dem Boden waren, wo die Schlingpflanzen sich verzweigt und eine Art Podest gebildet hatten – ein natürliches Baumhaus. Zac setzte sich und half Odette, sich neben ihn zu zwängen.
    »Na, ist das nicht was?«
    Odette schaute sich um. Obwohl die sie umgebenden Bäume noch viel höher bis zum Blätterdach des Regenwalds aufragten, kam sie sich vor, als würde sie im grünen Raum schweben.
    Die Luft war feucht und warm, und über ihnen war ein Dach aus niedrigeren Bäumen und Schlingpflanzen, eine vor dem grellen Sonnenlicht geschützte grüne Welt unter dem Schirm der Riesenbäume.
    »Ich hab das Gefühl, in einem Vogelnest zu sitzen. Es ist himmlisch. Ein tolles Baumhaus, Zac.«
    »Ja, es hat etwas Magisches. Und wir müssen es bewahren.«
    »Aber das hier existiert doch schon seit Jahrhunderten.«
    »Dieser Wald ja. Doch der Mensch hat bereits in vielen Regenwäldern Schaden angerichtet. Sie sehen so unverwundbar aus, basieren aber auf einem äußerst zerbrechlichen Gleichgewicht. Sobald man Teile davon abholzt oder irgendwelche Veränderungen vornimmt, stirbt der Wald. Und er wächst nie wieder so nach, wie er war.

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