Das Dornenhaus
versinken ließ. Plötzlich bemerkte sie die Mangroven.
»Oje, ich hoffe nur, dass der Anlegesteg noch steht«, sagte sie laut.
Eines der Ruder platschte aufs Wasser. »Himmel, Odette, ich hab keine Lust, ans Ufer zu waten.«
»Hör auf herumzunörgeln, Max. Ich kenne den Fluss gut. Bin hier aufgewachsen.«
Wieder gingen Odettes Gedanken zurück zu den glücklichen Stunden, die sie auf dem Fluss verbracht hatte, allein oder mit ihren Eltern. Sie erzählte Max nichts davon, dass Sheila und Ralph hier im Fluss ertrunken waren. Es war eine traurige Erinnerung, die nur selten hervorgeholt wurde. Sie verspürte immer noch einen schmerzhaften Stich bei dem Gedanken an ihre Eltern, besonders an ihrem Geburtstag und zu Weihnachten. Aber meist bewahrte sie die Erinnerung an sie in ihrem Herzen wie ein warmes, sanft glühendes Stück Kohle, das immer da war, stetig und zuverlässig. Odette spürte, dass sie über sie wachten und wussten, wie es ihr erging. Sie bemühte sich, nur an die schönen Zeiten zu denken.
Hinter einer Biegung des Flusses spähte Odette um Max’ stämmige Gestalt herum.
»Schau, er ist immer noch da.«
Der schwitzende Fotograf lehnte sich auf die Ruder und sah über die Schulter. Der Steg hing schief im Wasser und war in der Mitte offenbar durchgesackt. Durch die Reste des Bootshauses war der Himmel zu sehen.
»Sieht nicht gerade stabil aus.«
Odette betrachtete Max’ schwergewichtige Figur, »Ich geh als Erste und probier’s aus, sonst musst du ans Ufer rudern, deine Hosenbeine aufkrempeln und durch den Schlamm waten.«
»Na prima«, seufzte Max.
Aber als sie näher an den alten Anlegesteg kamen, entdeckte Odette die Löcher, wo die Holzplanken weggefault waren. »Ich glaube, wir müssen beide durch die Mangroven, Max.«
Sie banden das Ruderboot an einen Baum, zogen die Schuhe aus und bahnten sich ihren Weg durch den blauschwarzen Schlamm und die verhedderten Mangrovenwurzeln, Odette vorneweg. Sie fand den Bambushain, obwohl der Pfad hindurch kaum noch zu erkennen war. Doch schließlich gelangten sie auf der untersten Terrasse an, und Max sah hinauf zu den Steinbalustraden und den stufenförmig angelegten Terrassen, die zu den Bäumen rund um die Villa führten. Der Turm und das Dach des Hauses waren gerade noch zu sehen.
Wieder stieß Max einen leisen Pfiff aus. »He, das muss ja ein toller Anblick gewesen sein, als das alles noch in Schuss war, was?«
In der Nähe des Schwimmbeckens fanden sie einen noch funktionierenden Wasserhahn, wuschen ihre Füße und setzten sich auf den dekorativen Steinsitz, um sich die Schuhe anzuziehen. Das Becken war voller Unkraut, und sogar Baumschösslinge hatten in der dicken Lage vermoderter Blätter, die das ganze Becken bedeckte, Wurzeln geschlagen.
»Soll ich davon eine Aufnahme machen?«, fragte Max und deutete mit dem Fotoapparat in Richtung Schwimmbecken.
»Nein. Da gibt es bessere Motive«, sagte Odette und schob sich durch das Gebüsch, hinter dem die Grotte verborgen war. Max bückte sich, wühlte in seiner Kameratasche herum und legte einen Film in den Apparat ein.
»Komm und sieh dir das mal an. Es ist wunderschön«, rief Odette. »Nun mach schon, Max.«
Als er sie erreichte, zog Odette vorsichtig die Ranken beiseite und legte die kleinen Orchideen frei, die in den Spalten der von Menschenhand geschaffenen Höhlen blühten. »Schau mal rein, da gibt es niedliche kleine Figuren. Jemand mit einer blühenden Phantasie muss sich große Mühe gegeben haben, das hier zu bauen.«
Max kroch hinein und schaute in die Ecken und Winkel der verschlungenen Höhlen. »Ich glaube, da brauche ich das Blitzlicht«, sagte er und ging mit seiner üblichen Tüchtigkeit ans Werk.
Ein Stück weiter fand Odette etwas, das wie ein dicker Baumstumpf aussah, aus dem große Farnbüschel herauswuchsen. In kleinen abgebrochenen Zweigen hockte ein winziges, aus Stein geformtes Opossum und lugte hinter einer Buschorchidee hervor. Um den Fuß des Baumstumpfs wuchs ein Ring großer Pilze, auf denen zierliche Märchenfiguren saßen. Odette streckte die Hand aus und berührte den Baumstumpf und die Pilze. Alles war aus Stein, jetzt bedeckt mit Moos und den Luftwurzeln der Orchideen und Bromelien.
Vorsichtig teilte Odette die Blätter der Pflanzen auf dem steinernen Baumstumpf und fand ein eingeritztes Herz mit den verschlungenen Initialen B und K.
»Noch ein Hinweis«, flüsterte sie, während Max’ Blitz das Dämmerlicht der Grotte erhellte.
Nur unter
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