Das Dornenhaus
fröstelte und hatte wieder das seltsame Gefühl, nicht allein zu sein. Sie trat einen Schritt vor und murmelte besänftigende Worte. Die Frau nahm keine Notiz von ihr, fuchtelte immer noch mit den Händen, verhaspelte sich in sinnlosen Worten und Sätzen, den Blick starr auf den Rosengarten gerichtet.
Sanft berührte Odette sie am Arm. »Bitte … ist ja gut …«
Die Frau reagierte heftig, schüttelte ihre Hand ab und fuhr zu Odette herum. Ihre Augen waren glasig, aber dann klärte sich ihr Blick, und sie hörte zu sprechen auf. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit jetzt auf Odette, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Odette. Wer sind Sie?«
Die Frau richtete sich auf und gewann eine Spur ihres vorherigen Stolzes zurück.
»Ich, ich bin Mrs. Dashford. Mary Dashford.«
Die Erkenntnis traf Odette wie ein körperlicher Schlag.
»Mary! Sie sind Mary. O mein Gott!«
»Ja. Ich bin Mary. Und das ist mein Zuhause. Sie haben versucht, es mir wegzunehmen, oh, und wie sie es versucht haben! Aber sie haben es nicht geschafft. Es gehört mir. Ich habe geschworen zurückzukommen. Es ihr und Vater wegzunehmen. Er war derjenige, der mich weggeschickt hat. Und jetzt werde ich seinen kostbaren Traum zerstören. Alles zerstören. Das ist seine Strafe. Weil er mich weggeschickt hat.«
Wieder begann sie zu wüten und zu klagen, im einen Moment brachen Hass und Bitterkeit aus ihr hervor, im nächsten ein mitleiderregendes Wimmern, das sie an die unsichtbare Gestalt hinter Odette richtete.
»Du verstehst es doch, nicht wahr, du verstehst es doch, ja, Mutter?« Sie streckte die Arme aus und stolperte an Odette vorbei. Die herrische alte Frau war jetzt zu einem verletzten und verwirrten Kind geworden.
Odettes Herz flog ihr zu, als sie sich an die Geschichte des von Robert und Catherine adoptierten Waisenkindes erinnerte, die sie in den Tagebüchern gelesen hatte. All die langen Jahre hatte diese arme, bemitleidenswerte Frau gelitten und Pläne geschmiedet, in das einzige Heim zurückzukehren, das sie je gekannt hatte.
Die Qual und die Bitterkeit, die Mary seit so langer Zeit vergiftet hatten, strömten nun aus ihr heraus, während über ihnen der Sturm tobte – krachender Donner, zuckende Blitze und wahre Regenfluten.
Die alte Frau stolperte weiter durch den Rosengarten und rief nach ihrer Mutter, hatte Odette vollkommen vergessen.
Odette schüttelte den Kopf. Jetzt war alles so klar: Mary hatte ihr Leben lang intrigiert, um Zanana zurückzubekommen, und durch die Zerstörung würde sie sich nun an Robert und Kate rächen, die sie offenbar für all den Kummer und die Qual, die sie erlitten hatte, verantwortlich machte. Wie sie sich ihren Weg in die Kanzlei und die Familie der Dashfords erschlichen haben musste, zu dem einzigen Zweck, sich auf hinterhältige Weise die Macht über Zanana anzueignen.
Odette wirbelte der Kopf. Mary Dashford war offensichtlich die Spinne im Mittelpunkt des Netzes von Beveridge Investments. Aber wie sollte sie das beweisen? Es waren keine Unterlagen über Zanana aufgehoben worden, als Dashfords Kanzlei nach Hectors Tod verkauft wurde.
Odette hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Die verrückte, traurige, verwirrte alte Frau verschwand allmählich und stolperte durch den Rosengarten auf den Pfad zum Fluss zu, als würde sie von unsichtbarer Hand geführt.
Ihr Gemurmel war verstummt, und ihr Gang wurde sicherer, obwohl sie völlig durchnässt und der Garten fast dunkel war.
Als sie ganz verschwunden war, erwachte Odette wieder zum Leben. Sie schaute hinauf zu dem am Himmel tobenden Gewittersturm und hörte plötzlich über dem wilden Krachen Zacs sanfte Stimme. »Ich sehe immer wieder das indische Haus … das indische Haus … das indische Haus …«
Natürlich. Mary musste die Unterlagen, Papiere und was sie sonst noch hatte, dort verstaut haben. Odette erinnerte sich an die aufgestapelten Kartons, die sie gesehen hatte, als sie mit Eden durch die Fenster lugte. Sie drehte sich um und rannte durch den Sturm zum indischen Haus.
Die Tür war unverschlossen. Mary hatte wohl wiederkommen wollen, war aber von Odette gestört worden. Odette stand in der Dunkelheit des geheimnisvollen kleinen Palastes, umgeben von dem vertrauten Sandelholzgeruch.
Beim nächsten Blitzstrahl erspähte sie den Messingtisch, auf dem eine Kerze in einem altmodischen Leuchter stand. Odette ertastete sich den Weg zum Tisch und hoffte, dass die Streichhölzer in der Nähe lagen. Ja, da
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