Das Dornenhaus
er.
»Der ist ja von der ganz schnellen Sorte!«, sagte Ellen, und wir lachten.
Jago schob sich das Haar aus dem Gesicht und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.
»Das hab ich nicht gewusst«, sagte er. »Ich hab kein Geschenk für dich.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ist doch unwichtig.«
Jago trat immer noch nervös auf der Stelle. Dann sagte er: »Pass auf, ich geb dir was, was besser ist als jedes Geburtstagsgeschenk.«
Und dann legte er, vor den Augen aller Kinder, die auf den Schulbus warteten, seine jungenhaften Arme um mich, beugte sich zu mir und presste seine Lippen auf meine. Während die anderen Schüler uns mit lauten Rufen anfeuerten, gab Jago mir einen Geburtstagskuss. Meine Wangen glühten vor Freude und Verlegenheit.
Und dann nahm ich, errötet und überglücklich, meinen Fotoapparat aus der Schultasche und bat Jago, ein Foto von Ellen und mir zu machen. Ellen und ich stellten uns in unseren schwarzen Strumpfhosen und Wintermänteln auf, während Jago vor uns auf und ab ging und sich bemühte, den besten Winkel für die Aufnahme zu finden. Ellen lehnte den Kopf an meinen, sodass mein blondes Haar und ihr dunkles langes Haar ineinanderflossen. Mit meinen dreizehn Jahren war ich noch immer ein molliges Kind, und mein Bauch spannte unter dem Rockbund. Während ich linkisch in die Kamera blickte, war Ellens Ausdruck locker und übermütig. Auch unsere Posen waren gänzlich verschieden. Ich stand frontal zur Kamera, die Füße im Fünfundvierziggrad-Winkel zueinander, die Arme seitlich herabhängend, und lächelte schüchtern unter meinem Pony hervor, sodass meine Wangengrübchen und die Zahnspange zu sehen waren. Ich trug den von meiner Mutter gestrickten Schal um den Hals, und aus meinen Manteltaschen ragten die Bündchen meiner roten Wollhandschuhe. Ellen hatte sich mir seitlich zugedreht und den einen Arm um meine Schulter gelegt, während sie die andere Hand locker in die Hüfte stemmte. Das Kinn erhoben, schürzte sie anmutig die Lippen. Bislang war mir die Bedeutung ihre Pose nie aufgefallen, aber jetzt, als Erwachsene, im kalten Morgenlicht, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Jago hatte mich geküsst, und Ellen flirtete nun mit ihm, da sie nicht ertragen konnte, ausgeschlossen zu sein. Mit ihren zwölf Jahren wusste sie genau, was sie tat. Sie hatte schon immer gewusst, was sie tat.
Ich legte das Foto mit der Vorderseite nach unten auf den Boden. Auch die Ansichtskarten, die Ellen mir aus Magdeburg geschickt hatte, befanden sich noch in dem Karton. Ich sah sie kurz durch. Ellens Handschrift war unregelmäßig und schlampig, hie und da war ein Buchstabe oder Wort durchgestrichen, und die Rückseiten waren ebenfalls bekritzelt. Ich las die Karten nicht, sondern ließ sie auf das Foto fallen. Als Nächstes nahm ich ein paar alte Schulzeugnisse heraus, dann Jagos Schulkrawatte, eine Zeichnung von Snoopy, die er für mich gemacht hatte, eine Hundemarke aus Metall in Form eines Knochens, auf deren Vorderseite »Trixie« stand und auf der Rückseite die Adresse, Cross Hands Lane 8; außerdem eine armbandlose Uhr, einige Muscheln und getrocknete Blumen, von denen ich nicht mehr wusste, bei welcher Gelegenheit ich sie gesammelt hatte. Auf dem Boden der Schachtel lag eine blaue Männersocke. Ich nahm sie in die Hand. Warum hatte ich sie aufgehoben? Ich hielt sie mir an die Wange und rief mir den Nachmittag ins Gedächtnis, an dem ich sie gestohlen hatte – wie ich mich gefühlt hatte, verrückt und blind vor Liebe, und da wusste ich, warum ich sie aufbewahrt hatte. Die blaue Socke sollte mich warnen. Ich legte sie auf die Armlehne des Sessels.
Ganz unten auf dem Boden der Schachtel lag das zweite Foto von Ellen. Es war klein und quadratisch, ein Bild, das ich mit demselben Fotoapparat an Ellens achtzehntem Geburtstag aufgenommen hatte. Ich fischte das Foto heraus und drehte es um. Die Farben waren ein wenig verblichen, aber dennoch entfaltete das Bild sofort seine Wirkkraft und entführte mich zurück in den Garten von Thornfield House. Ellen trug das silbergraue Kleid, das ihr Vater ihr geschenkt hatte. Sie stand unter einem schmiedeeisernen Rosenbogen, den Adam Tremlett im Zuge der Gartenrestaurierung aufgestellt hatte. Wenn man das Foto nur oberflächlich betrachtete, hätte man es für einen harmlosen Schnappschuss halten können, den man zur Erinnerung aufbewahrte, aber bei genauerem Hinsehen stellte man fest, dass etwas auf dem Bild nicht stimmte. Es war nicht die Müdigkeit
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