Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
Vom Netzwerk:
Herbstferien warteten Ellen und ich im Garten des Trethene Arms auf Mr   Brecht. Wir überbrückten die Zeit mit Schaukeln und stießen uns abwechselnd an. Ellens Vater war »rasch hineingegangen«, um eine Flasche Wein zu holen, blieb jedoch länger als eine halbe Stunde weg. Zwei Mädchen, mit denen ich in derselben Grundschulklasse gewesen war, kamen mit Colagläsern in den Händen in den Garten heraus. Sie setzten sich auf eine Bank und sahen verstohlen zu mir herüber, während sie miteinander tuschelten und kicherten. Zunächst beachtete ich sie nicht, aber sie redeten immer lauter.
    »Das ist Hannah, das blödeste Mädchen im ganzen Land«, sang eine von ihnen mit theatralischer Stimme.
    »Die fetteste Kuh im ganzen Land!«, sang die andere.
    »Die stinkendste Kuh im ganzen Land!«
    Sie zogen ein angewidertes Gesicht, während sie mit der Hand vor der Nase wedelten, und bogen sich vor Lachen.
    Ellen hatte sich mehrmals auf der Schaukel umgedreht, sodass sich die Ketten verdrehten. Dann hob sie die Füße und ließ die Schaukel wieder zurückschnellen; sie drehte sich schneller und schneller, bis sie wieder in der Ausgangsposition war. Dann sprang sie herunter, klopfte sich die Hände an den Seiten ihrer Shorts ab und schlenderte zu den Mädchen hinüber. Unter ihrem starren Blick verstummten sie und zogen die Schultern hoch.
    Ellen blieb neben der Bank stehen.
    »Ihr habt Hannah ausgelacht«, sagte sie in sachlichem Ton. »Hannah ist meine Freundin, und ich werde es niemals zulassen, dass jemand sie verletzt. Habt ihr verstanden?«
    Die Mädchen sahen einander an. Sie grinsten, aber ich konnte erkennen, dass sie sich nicht wohl in ihrer Haut fühlten.
    »Habt ihr verstanden?«, fragte Ellen erneut.
    Sie nickten.
    »Gut«, sagte Ellen. Dann beugte sie sich über den Tisch und spuckte in jedes der beiden Cola-Gläser. Den Mädchen blieb der Mund offen stehen, und sie starrten sie ungläubig an. Ellen hingegen lächelte, aber sie lächelte nur mit den Lippen, nicht mit den Augen. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken den Mund ab, drehte sich um und kehrte zur Schaukel zurück.
    In diesem Moment begriff ich, was wahre Freundschaft bedeutete. Es hieß, sich für die Menschen einzusetzen, die man gernhatte. Es hieß, sich mutig vor sie zu stellen, anstatt die Augen zu verschließen, wenn sie in der Patsche saßen. Ellen zeigte mir, wie wichtig Loyalität war.
    Es wäre besser gewesen, ich hätte von ihr gelernt.
    Ich erinnere mich an eine weitere wichtige Episode aus jener Zeit. Es war an einem der folgenden Abende. Meine Eltern besuchten eine Kirchenveranstaltung, und ich hielt es zu Hause nicht mehr aus, da über den Gartenzaun, der unser Haus von dem der Cardells trennte, wieder einmal böse Worte herüberprasselten wie Gewehrsalven. Willst du vielleicht eine Tracht Prügel, Jago, hä? Oder warum sprichst du so mit mir? Schau dich an, du nimmst nur unnötig Platz weg, ein Jammer, dass deine Mutter gestorben ist und dein Vater dich hat sitzenlassen. Du Versager, was bist du nur für ein elender Versager! In diese Worte mischte sich das Jaulen – ich konnte nicht sagen, ob aus Angst oder vor Schmerzen – des Hundes, einer Staffordshire-Kreuzung mit großem Kopf und krummen Beinen. Ich hielt mir die Ohren zu, aber die Worte ließen sich dadurch nicht aufhalten. Um ihnen zu entkommen, musste ich fliehen, irgendwohin, wo ich sie nicht mehr hören konnte. Ich schwang mich aufs Fahrrad und fuhr den Hügel hinauf, bis das Rauschen des Baches, der, eingesäumt von zwei grünen Pflanzenstreifen, neben der Straße über Baumwurzeln und Felsen hüpfte, das Elend von nebenan übertönte. An der Kreuzung beschloss ich, nach Thornfield House zu fahren. Ich wollte bei Ellen sein.
    Schon vor dem Haus hörte ich die Musik. Es war Klaviermusik, aber nicht die Art von beschwingten Takten, die die Lehrer in der Schule anschlugen, um die Schüler zum Mitsingen zu animieren, nein, diese Musik war wie Mondschein auf Wasser, auf- und abebbende, sich kräuselnde und funkelnde Klänge.
    Ich lehnte mein Fahrrad gegen die Mauer und betrat durch das offene Tor den Plattenweg durch den Garten. Der untere Teil des Fensters im Salon war geöffnet. Die elfenbeinfarbenen Voile-Gardinen bewegten sich im Luftzug. Darauf bedacht, keine Geräusche zu machen, näherte ich mich leise dem Fenster und spähte vorsichtig hinein.
    Ellen saß mit dem Rücken zu mir am Flügel. Sie trug ein Gewand, das wie ein ärmelloses Nachthemd aussah, und war

Weitere Kostenlose Bücher