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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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Springens müde waren, forderten sie einander im Schwimmen heraus – vom äußersten Rand der Bucht bis zur gegenüberliegenden Seite. Währenddessen saß ich auf einem muschelbewachsenen Felsen, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, und blickte den dunklen Umrissen ihrer Köpfe nach, immer in Sorge, ich könnte sie aus den Augen verlieren und sie könnten ertrinken und für immer in den dunklen Fluten verschwinden. Wie, fragte ich mich, sollte ich dann erklären, warum ich als Einzige noch am Leben war?
    Ich war kein mutiges Kind. Meine in mich vernarrten Eltern hatten mich überbehütet und verhätschelt. Außerdem wusste ich, dass an diesem Küstenabschnitt Jahr für Jahr immer wieder Menschen ertranken. Doch sosehr ich Jago und Ellen auch anflehte, nicht so wagemutig zu sein, sie hörten einfach nicht auf mich. Sie taten, als wären sie unsterblich. Mit schrillem, durchdringendem Geschrei rannten sie ins Meer. Sie stürzten sich in die sich brechenden Wellen, wurden auf dem Kieselstrand hin und her geworfen und schürften sich Knie, Hände und den Bauch auf. Stundenlang blieben sie im Wasser. Wenn ich des Zuschauens überdrüssig war, suchte ich den Strand nach angespülten Glasstücken ab, die Wasser und Sand glatt und trübe geschliffen hatten, oder sammelte Treibholz für ein Strandfeuer ein, auf dem wir kleine gelbe Krebse und andere Schalentiere grillten, die Jago vom Meeresgrund heraufholte.
    Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie Ellen, Jago und ich ums Feuer herumhockten und uns an den orangefarbenen Flammen wärmten, die vom Wind mal in diese und mal in die andere Richtung geweht wurden. Wie Jago und Ellen mit den Zähnen klapperten, eingehüllt in ihre dünnen Handtücher, die sie achtlos in die Ginsterbüsche warfen, nachdem sie sich abgetrocknet hatten. Der Rauch brannte uns in den Augen und blieb in unserem Haar haften, im Mund hatten wir den Geschmack von gegrilltem Muschelfleisch und Holzkohle. Mit all meinen Sinnen erinnere ich mich an die Tage, die wir als Teenager an jenem Strand verbrachten.
    Lange hatte ich geglaubt, Jago und Ellen würden sich, sofern wir nicht am Strand waren, allenfalls tolerieren, und zwar mir zuliebe. Ich dachte, sie könnten nichts miteinander anfangen. Jago war der grobe, ungehobelte Junge aus der Armeleutesiedlung und Ellen das verrückte Mädchen aus wohlhabendem Haus, und ich war der Puffer zwischen ihnen. Wir spielten unsere Rollen so sorgfältig, so einstudiert, dass mir nie in den Sinn kam, dass wir in Wahrheit schauspielerten. Wir alle waren uns dessen lange nicht bewusst.

ELF

    D ie Morgenstunden zogen sich dahin, bis es endlich acht war, eine angemessene Uhrzeit, um Julia, meine Psychiaterin, anzurufen. Julia Fortes da Cruz hatte mir gesagt, ich könne sie jederzeit kontaktieren, auch wenn unser letzter Kontakt nun schon einige Jahre zurücklag. Während das Freizeichen erklang, schloss ich die Augen und hoffte, dass ihr Angebot noch immer galt. Als sie ranging, war ich so erleichtert, dass ich einen Moment brauchte, um mich zu fassen.
    »Julia …«
    »Hallo, wer ist dran?«
    Im Hintergrund hörte ich das Brabbeln und Glucksen eines Babys. Als ich das letzte Mal mit Julia gesprochen hatte, hatte sie noch kein Kind gehabt.
    »Hier ist Hannah«, sagte ich. »Hannah Brown. Ich war in Chartwell Ihre Patientin.«
    Julia stockte einen Moment, erinnerte sich aber schnell wieder.
    »Hannah, wie schön, von Ihnen zu hören! Ist alles in Ordnung?«
    Julias Stimme hatte sich verändert. Ich stellte mir vor, wie sie, nachdem ich den Namen der Klinik erwähnt hatte, den Hörer zwischen Kinn und Schulter klemmte und ihrem Partner bedeutete, sich um das Baby zu kümmern, und wie sie dann von der Küche in ein anderes Zimmer ging. Julia war eine kleine, lebhafte, unkonventionelle Frau. Ich war mir sicher, dass es in ihrem Büro zahlreiche Pflanzen, Traumfänger aus Glas, Kristalle und eine Bilderschiene mit originellen Ansichtskarten gab.
    »Nein«, sagte ich. »Es geht mir nicht gut … nicht wirklich. Tut mir leid, dass ich so früh anrufe, Julia, aber gestern ist etwas passiert, und …«
    »Das ist okay. Kein Problem, ich bin froh, dass Sie anrufen. Dafür bin ich doch da.« Am anderen Ende der Leitung erklang ein Rascheln, dann der vertraute, gedehnte Klang, mit dem ein Computer hochgefahren wird. Bestimmt warf Julia einen Blick in meinen Datensatz, um ihre Erinnerung an meinen Fall aufzufrischen. Ich stellte mir vor, wie sie sich an ihren

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