Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
Vom Netzwerk:
Stunden vergangen, seit ich Ellen im Museum gesehen hatte, und wieder hatte ich das Gefühl, dass sie hinter mir stand, mir ihren kalten Todesatem an den Nacken hauchte, mich beobachtete, lauschte, wartete.
    Ich zog eine Schublade auf, wühlte darin, fand mein Adressbuch und suchte die Telefonnummer von Julia, meiner Psychiaterin. Ich schrieb sie auf einen Zettel und steckte ihn unter das Telefon.
    Noch acht Stunden, dachte ich. In frühestens acht Stunden kannst du sie anrufen.
    Nur diese eine Nacht musste ich noch überstehen, mehr nicht.
    Dann ging ich ins Bett, fand aber keinen Schlaf. Es gelang mir einfach nicht, eine bequeme Position zu finden, mein Körper schien nur aus Knochen zu bestehen, meine Gliedmaßen fühlten sich seltsam verdreht an, die Nerven wie eingeklemmt. Draußen, in einem Garten, jaulte eine Katze. Sie klang wie ein gepeinigtes Kind, und jedes Mal, wenn sie ihr markdurchdringendes Wehklagen hören ließ, erhoben die Hunde in der Nachbarschaft kläffend Protest. Der leise dröhnende Verkehr von der M 32, konstant aus der Ferne zu vernehmen, war irritierend wie das Brummen einer Wespe, und immer wieder durchschnitt der Lärm einer Sirene irgendwo in der Stadt die Nacht. Katastrophenszenarien jagten mir durch den Kopf: Ich stellte mir vor, wie Bomben explodierten, Gebäude zusammenstürzten, Amokläufer wild um sich schossen, Häuser brannten und Menschen darin eingeschlossen waren. Mir war abwechselnd zu warm und zu kalt. Ich kam mir ausgedörrt und dehydriert vor, doch als ich ein Glas Wasser trank, verspürte ich sofort ein Völlegefühl. Wann immer ich die Augen schloss, sah ich Ellens Gesicht vor mir. Und wenn ich kurz vor dem Einschlafen war, flammte eine Erinnerung auf, eine Szene aus einem früheren Albtraum oder eine Episode aus meiner Vergangenheit, die ich vergessen zu haben glaubte.
    Als ich um fünf Uhr in der fahlen Morgendämmerung noch immer nicht schlief, während die Vögel ihr Morgenkonzert anstimmten, nachdem die Katze gerade ihr Gejaule eingestellt hatte, gab ich auf und stieg aus dem Bett.
    Ich dachte, dass, wenn ich ein Foto von Ellen fände und ihr Gesicht betrachtete, die Macht der Erinnerung an sie womöglich nachlassen würde. Sie war doch einfach nur ein Mädchen gewesen, das viel zu jung gestorben war. Was war so beängstigend daran? Warum hatte sie sich in meinem Geist in etwas derart Monströses verwandelt? Natürlich wusste ich, warum ich Angst vor Ellen hatte, doch gleichzeitig wusste ich, dass sie mir nicht wehtun konnte. Sie war tot. Ich brühte Tee auf und holte dann den Schuhkarton unter meinem Bett hervor, wo ich die wenigen Erinnerungsstücke aufbewahrte, die meinen psychotischen Säuberungsaktionen entgangen waren. Ich machte es mir mit der Katze im Schoß in dem weißen Polstersessel im Wohnzimmer bequem, legte eine CD von Holst auf und nahm den Deckel von der Schuhschachtel.
    Früher hatte ich Hunderte von Fotos von Ellen besessen, aber nach meiner Rückkehr aus Chile hatte ich sie alle vernichtet. Ich wollte keine Erinnerungen mehr, wollte die Vergangenheit vergessen. Ich durchsuchte den Inhalt des Kartons, bis ich eines der einzigen beiden Fotos fand, die ich aufbewahrt hatte. Ich nahm es heraus und betrachtete es im Licht der Leselampe. Dieses Foto hatte ich behalten, weil Jago es aufgenommen hatte. Weil er so weit weg und für mich verloren war, hatte ich es zur Erinnerung an ihn aufbewahrt.
    Er hatte es an meinem dreizehnten Geburtstag gemacht, während wir vor der Schule auf den Bus warteten. Der Fotoapparat war das Geburtstagsgeschenk von meinen Eltern, und ich hatte ihn in meiner Schultasche zur Schule mitgenommen.
    An diesem Novembernachmittag stand Jago wie gewöhnlich mit den Williams-Zwillingen an der Bushaltestelle. Ich hatte ein bisschen Angst vor ihnen. Sie waren etwas älter als ich, stämmige und untersetzte Burschen; in ihrer Freizeit röhrten sie auf ihren Mopeds durch die Gegend und zogen dunkle Abgaswolken hinter sich her oder machten Jagd auf Füchse. Mum hatte gesehen, wie sie auf dem Feld hinter der Kirche mit Mädchen, die mit ihren Eltern Urlaub in unserer Gegend machten, Cidre tranken. In ihren Augen etwas höchst Unanständiges, wie ihr schockierter Ton signalisierte. Wenn Jago mit den Zwillingen zusammen war, beachtete er mich manchmal nicht, aber an diesem Tag lächelte er mir zu und sagte: »Hallo«. Sein Blick fiel auf das Abzeichen an meinem Pullover, auf dem stand »Birthday Girl«.
    »Hast du heute Geburtstag?«, fragte

Weitere Kostenlose Bücher