Das Dornenhaus
barfuß. Ihr langes schwarzes Haar fiel ihr lose über den Rücken, und ihre Hände bewegten sich rhythmisch über die Klaviatur. Hin und wieder senkte sie leicht den Kopf. Die Füße hatte sie hinter die Vorderbeine des Klavierhockers geklemmt. Die Pedale benutzte sie nicht.
Erst als Ellens Spiel endete, als das Stück sanft verklang, bemerkte ich, dass ihre Eltern ebenfalls im Zimmer waren. Ihre Mutter lag, mit einem Kaschmir-Plaid zugedeckt, auf der Chaiselongue. Nur ein Fuß mit dem verformten Knöchel, über den sich die weiße Haut spannte, ragte unter dem weichen, beigefarbenen Gewebe hervor. Sie hatte den Rücken ebenfalls dem Fenster zugewandt, und ich konnte nur ihr wirres, loses Haar sehen. Neben ihr auf dem Fußboden stand eine fast leere Weinflasche, und daneben lag ein langstieliges Glas.
Als sich Ellen langsam auf dem Klavierhocker umdrehte, erhob sich ihr Vater von seinem Stuhl, trat zu Ellen und beugte sich über sie, um ihr einen Kuss zu geben. Er legte seine Hände zärtlich auf ihre Schultern, und sein Haar fiel ihm ins Gesicht. Die beiden schienen in einem kostbaren Moment höchster Intimität versunken. Gebannt starrte ich auf das Bild, das Vater und Tochter boten: Mr Brecht, der zu Ellen hinabsah, und sie, die zu ihm hinaufblickte, während sich der Rauch seiner Zigarette, die er zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand hielt, anmutig emporkräuselte und die beiden in einen zarten Schleier hüllte.
Plötzlich fühlte ich mich zutiefst einsam.
Ich wollte, dass Mr Brecht mich auch so hielt.
»Spiel das Stück noch einmal, Ellen«, sagte Mr Brecht, »spiel es für deine Mutter.«
Ellen lächelte leise und nickte. Dann drehte sie sich zum Klavier um, und Mr Brecht blieb daneben stehen, während erneut die Musik einsetzte, die ersten Takte, hell und klar wie Wasser, das sanft über Steine rieselt.
NEUN
N achdem mich John nach dem Abendessen zu meiner Wohnung zurückgefahren hatte, spürte ich den Alkohol, der mich müde gemacht hatte. Ich kochte mir einen Zitroneningwertee und begab mich mit dem Becher und Lily ins Wohnzimmer. Das rote Lämpchen am Anrufbeantworter blinkte auffordernd; die Anzeige auf dem Display sagte mir, dass drei Nachrichten eingegangen waren. Ich drückte auf den Wiedergabeknopf. Rina hatte angerufen, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen; der zweite, ziemlich verworrene Anruf stammte von meiner Mutter, die sich standhaft weigerte zu begreifen, wie man eine zusammenhängende Nachricht auf einem seelenlosen Gerät hinterließ. Ein Anflug von schlechtem Gewissen überkam mich, weil ich ihren Anruf verpasst hatte. Ich löschte die Nachricht und hörte mir die dritte an. Eine Frau sagte: »Hannah, ich bin’s …«
War das Ellen? Ich schlug mir die Hand vor den Mund und wich vor dem Gerät zurück. Mein Herz klopfte wie wild in der Brust. Die Katze floh alarmiert aus dem Zimmer. Die Zeit schien stillzustehen. Panische Gedanken jagten mir durch den Kopf, prallten aufeinander und zerbrachen zu Myriaden winziger Angstsplitter. Zu Tode erschrocken, war ich unfähig, die Hand auszustrecken und den Anrufbeantworter auszuschalten. Ein Knistern und Knacken ertönte, dann war das Klicken eines Feuerzeugs zu hören und wie jemand einen tiefen Zug aus der Zigarette nahm, ehe sich die Stimme wieder zu Wort meldete. »… Charlotte Lansdown …« Ich sank auf einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände. Jetzt hörte es sich an, als würde sich Charlotte einen Drink einschenken. Das gurgelnde Geräusch einer Flüssigkeit, das Klirren von Eiswürfeln im Glas und dann: »Ich bin gerade von der Chorprobe nach Hause gekommen, und John ist nicht da, und der Trottel hat sein Handy vergessen. Ähm …« Sie sog erneut an ihrer Zigarette. »Würdest du ihn bitten, mich anzurufen und …« Wieder ein Rascheln und Knistern. »Oh, ist schon okay! Er ist gerade nach Hause gekommen. Vergiss meinen Anruf! Ich hoffe, ihr hattet einen schönen Abend …« Und damit legte sie auf.
Die ganze Zeit über hatte ich die Luft angehalten, jetzt stieß ich sie aus, stand auf, trat an die Wand und legte die Stirn an die kühle Oberfläche.
Ich brauchte dringend Hilfe. Ich schaffte es nicht allein. So hatte es das letzte Mal angefangen, genau so hatte sich mein Zusammenbruch angekündigt, nur dass diesmal die Angst noch schlimmer war. Es war eine kalte Angst, die mit eisigen Fingern in meinem Inneren wühlte und sich immer mehr ausdehnte. Es waren weniger als zwölf
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