Das Drachentor ("Drachenkronen"-Trilogie) (German Edition)
Türmchen noch häufig benutzen mussten.
Als Tonya aus dem Erker trat, war der Diener verschwunden. Sie sah nach rechts und links den düsteren Gang entlang, der nur in einigen Abständen von Kerzen schwach erleuchtet wurde. Sollte sie die Gelegenheit nutzen und sich ungestört ein wenig umsehen? Wie schnell würde ihr Gastgeber sie vermissen? Ein kurzer Blick konnte nicht schaden!
Sie huschte in die entgegengesetzte Richtung als die, aus der sie gekommen war. Weit kam sie allerdings nicht. Als Tonya mit gerafften Röcken um die erste Biegung schlich, blieb sie mit einem unterdrückten Aufschrei stehen. Mitten im Gang saß ein riesiger weißer Wolf und sah sie aus gelben Augen an. Er entblößte seine Reißzähne, als er sie sah, und knurrte leise. Es war klar, dass er sie nicht vorbeilassen würde. Tonya tastete nach ihrem Amulett. Es standen ihr durchaus Möglichkeiten zur Verfügung, mit so einem Tier fertig zu werden, ohne dass sie Schaden dabei nahm. Vielleicht war es jedoch nicht klug, diese jetzt schon zu offenbaren. Der Wolf erhob sich und trat an ihre Seite, ohne den Blick von ihr zu wenden.
»Ja, gut, ich folge dir«, seufzte sie und schritt hinter ihm her zur Halle zurück. Dort stand eine ihr bekannte Gestalt am Eingang.
»Ramon, was tust du hier«, wollte Tonya wissen und trat auf den Kutscher zu. Er wandte sich langsam zu ihr um. Sein Blick war trüb.
»Ramon, was ist mit dir?« Tonya sog scharf die Luft ein, als sie die Blutstropfen an seinem Hemdkragen bemerkte. Mit spitzen Fingern schob sie den Stoff ein wenig zur Seite, bis er die beiden Bissstellen enthüllte, die sich dunkel von der wächsernen Haut abhoben. Kalt war seine Haut und leblos, wie sein Blick. Sie berührte einen lebenden Toten!
»Bei allen Göttern«, hauchte sie. »Das war also sein Mahl.« Mit dem Gefühl des Bedauerns trat sie zurück. Es war geschehen, und sie konnte nichts mehr dagegen tun.
»Es tut mir leid«, sagte sie leise, doch das, was von Ramon übrig war, reagierte nicht. Vermutlich war das Bewusstsein des Dieners mit seinem Blut aus ihm gewichen, und es gab keine Erinnerungen mehr in der untoten Hülle.
Der Wolf hinter ihr knurrte. Vielleicht wurde er ungeduldig. Mit einem letzten Blick auf ihren Begleiter wandte sich Tonya ab und kehrte in den Speisesaal zurück. Als einer der Diener ihr den Stuhl zurechtrückte, kam ihr ein Gedanke, der sie beunruhigte.
Hatte der Graf ihren Kutscher nur ausgesaugt oder ihm zuvor sein Wissen über seine Herrschaft abgepresst? Was hatte Ramon gewusst? Und wie viel davon hatte er dem Vampir verraten?
*
Sie brachen im Morgengrauen auf. Lamina ritt auf ihrem jungen Fuchs, mit dem sie schon einmal in Dijol gewesen war. Inzwischen machte sich keiner mehr Sorgen, wenn sie den heißblütigen Hengst auswählte, denn die junge Gräfin hatte inzwischen alle überzeugt, dass sie mit so einem Tier gut zurechtkam. Sie ritt an der Seite ihres Hauptmanns. Die Männer folgten in respektvollem Abstand. Seradir war vorausgeritten, um zu sehen, ob der Weg frei war. Er hatte ein gutes Gedächtnis für die Umgebung und erkannte jeden Baum und jeden Felsen wieder, an dem er mit Lamina schon vorbeigeritten war.
Nun, am späten Nachmittag, begann er, nach einem geeigneten Lagerplatz Ausschau zu halten. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt, was nicht von dem Ritt kommen konnte. Er saß oft viele Tage hintereinander ohne Zeichen der Ermüdung im Sattel. Auch die beiden fast völlig durchwachten Nächte konnten nicht allein daran schuld sein. Die Anspannung und der Zwang, sich in Laminas Nähe höflich distanziert zu geben, zehrten an seinen Kräften. Er hatte in der Nacht lange hin-und herüberlegt und erwogen, noch am Morgen wieder nach Hause zu reiten, doch wie konnte er das Angebot zurückziehen, die Männer bei ihrem bevorstehenden Kampf zu unterstützen? Nein, das war nicht möglich. Er musste mit nach Dijol. Aber danach, das schwor er sich, würde er keine Stunde länger auf Theron bleiben und auch nicht wieder dorthin zurückkehren. – Es sei denn, sie würde ihn brauchen und nach ihm schicken.
Seradir zügelte sein Pferd und lenkte es ein Stück nach Osten unter den Zweigen einer dichten Baumgruppe hindurch. Er konnte den Bach schon glucksen hören. Ja, da war die Lichtung, nach der er Ausschau gehalten hatte. Hier würden sie die Nacht zubringen. Zufrieden wendete er sein Pferd und kehrte zu den anderen zurück. Als Erstes vernahm er Laminas Lachen. Es klang so unbeschwert und frei.
Weitere Kostenlose Bücher