Das Drachentor
das Blut seines Volkes geerbt hat. Doch er wird diese Schuld überwinden und sie begleichen. Er wird Blut für Blut vergießen. Ein einzelner Menschenjunge … ein Menschenjunge wie du.«
Revyn saß reglos da. Wieso schwieg Yelanah bloß wie eine Steinfigur? Ein Stich ging ihm durch die Brust. Womöglich - wahrscheinlich - war sie auf Khaleios’ Seite … Sie hatte Revyn absichtlich hergeführt. So wie sie ursprünglich Twit hatte herschleppen wollen. Das Ganze war eine Falle. Revyn wurde ganz schlecht. Eine Falle - aber wofür?
»Sag mir die Wahrheit«, befahl Revyn mit zitternder Stimme. »Was willst du von mir? Wieso erzählst du mir all das?«
Khaleios schien nur auf diese Fragen gewartet zu haben. »Ich habe Visionen, Sohn der Menschen … manchmal, wenn die Macht der alten Geister in mir fließt. Es ist die Macht des Nir Miludd, das danach verlangt, die Wahrheit zu tragen. Und die Zukunft. Ich … sehe … Dinge . Ich sehe den Untergang meines Volkes. Es wird verschluckt von dem mächtigen Sog der Vergessenheit … Wir verlieren die Welt unter unseren Füßen. Doch ich muss es aufhalten, solange ich genug Leben in mir habe, um es zu opfern.« Er ballte die Hände zu Fäusten. Längst hatte sein Lächeln sich zu einer Fratze verzerrt. »Ich habe gehofft und gefleht, gewütet und mir das Hirn zermartert - und dann sah ich es. Ich sah es klar vor mir. Die Lösung. Ein Sohn des feindlichen Volkes wird die Schuld seines Blutes begleichen und die Elfen retten. Ein Märtyrer. Haben die Menschen uns fast vernichtet, so muss es ein Mensch sein, der diese Gräueltat auch wiedergutmacht!« Khaleios wies auf Revyn. »Ich habe lange auf dich gewartet. Nun bist du gekommen, um das Schicksal anzunehmen, das die Elfen und Ahiris dir zuweisen. Ich weiß«, fuhr er laut fort, als Revyn den Mund öffnete, »ich weiß, wie das für dich klingen mag. Gestern noch ein normaler Menschenjunge - und heute sollst du die Welt verändern. Aber wenn du an das Schicksal glaubst, wenn du an die Geister und Götter glaubst, die über allen Völkern wachen, dann vertrau mir! Bleibe hier, bei den Elfen, und lerne alles, was du wissen musst, um deine Bestimmung zu erfüllen. In dir liegt eine gewaltige Macht verborgen, Revyn! Du wirst ein Wunder vollbringen, wie nur ein Mensch es zu vollbringen vermag! Du wirst dich rächen und dich von allen Sünden reinwaschen. Du -«
Yelanah schnellte hoch. Überrascht hielt Khaleios inne, als sie den Mund öffnete - aber auch sie wurde unterbrochen. Der Türvorhang wurde beiseitegezogen. Eine Frau stand auf der Schwelle. Obwohl sie noch nicht alt sein konnte, hatte sich ein tiefer Kummer in ihr Gesicht gegraben. Ihre Augen irrten von Khaleios zu Revyn und blieben an Yelanah hängen. Sie schluckte kaum merklich, dann neigte sie den Kopf und führte die geschlossenen Hände an die Stirn, um sich zu verbeugen. Yelanah zeigte keinerlei Regung.
»Yohál Meleyis … Yelan - Yelanah … Nidur jeha àsra seul enorvaha«, murmelte die Frau leise. Als sie weitersprechen wollte, wandte Yelanah sich von ihr ab und sah Khaleios an.
»Du hast gesagt, du willst zu meinen Ehren ein Fest halten. Löse das Versprechen ein, das du der Meleyis gegeben hast, König der Elfen.«
Khaleios starrte sie an, dann machte er eine rasche Handbewegung. Augenblicklich verschwanden die Sonnenstrahlen aus den Laubwänden. Das Licht zerrann, als wäre eine Kerze ausgeblasen worden, und Dunkelheit erfüllte den Raum. Vor der Tür herrschte Nacht.
»Führe den Menschenjungen hinaus und zeige ihm das Dorf«, befahl Yelanah der Frau, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen. »Sorge dafür, dass er mit Respekt und Freundschaft behandelt wird und Freude an meinem Fest hat.«
»Was ist mit dir?«, fragte Revyn.
Yelanah drehte sich halb zu ihm um. »Ich komme gleich nach«, sagte sie abweisend, doch in ihrem Blick lag eine Dringlichkeit, die Revyn beruhigte und zugleich alarmierte. Dann wandte sie sich wieder an Khaleios, der seit der plötzlichen Verdunkelung still und unergründlich dasaß.
Widerwillig folgte Revyn der Elfe aus der Hütte. Die Frau schien ebenso verwirrt wie er.
Der Himmel über dem Tal schimmerte samtblau. Elfen liefen umher und zündeten Laternen an. Kinder tanzten vergnügt durch die Baumkronen und schwangen sich an den Ästen auf und ab.
»Komm mit«, sagte die Elfe mit einem starken Akzent zu Revyn und zwang sich zu einem Lächeln. Revyn ließ sich von ihr durch das Dorf führen. Vor Angst sagte er kein
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