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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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sich und ging in eine hintere Zimmerecke. In der Dunkelheit konnte Revyn nicht erkennen, was er tat, doch als er wiederkehrte und sich auf dem Hocker niederließ, hielt er einen Gegenstand im Arm. Es war ein Buch.
    Khaleios’ Hände ruhten auf dem ledernen Buchdeckel wie auf einer Schatztruhe. »Dies ist das Buch der Elfen, das Buch der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Dies ist das Buch, in dem die Geschichte meines Volkes niedergeschrieben wird. In diesem Buch befinden sich die Geheimnisse einer Welt, die sich hier in den tiefen Wäldern versteckt hält. In diesem Buch sind die Erinnerungen gefangen, die Erinnerung an alle Helden, alle Schurken … Ihre Geister leben in diesem Buch. Es ist mehr als tausend Geschichten schwer, mehr als zehntausend Leben wert. Jeder von uns, der die Geschehnisse der Welt beeinflusst, wird eines Tages in dieses Buch heimkehren. Es ist ein Grab. Und doch werden alle Toten neu geboren, sobald ein Auge ihre Namen auf den Seiten streift. Wir nennen dieses Buch Nir Miludd. Leben und Tod.«
    »Das alles passt in ein einziges Buch?« Revyn schloss den Mund. Er hatte das unbestimmte Gefühl, unhöflich geklungen zu haben.
    Doch Khaleios’ Lächeln war unverändert. »Unzählige Bücher sind seit Anbeginn der Zeit mit unseren Geschichten gefüllt worden. Und doch sind sie alle Teil eines einzigen Buches, verstehst du? Vor Jahrhunderten hielten meine Ahnen das Nir Miludd in Händen, so wie ich jetzt, auch wenn es mittlerweile ein wenig mehr Bände geworden sind.« Er öffnete den schweren Folianten behutsam. »Ich will dir etwas vorlesen, Revyn Menschenjunge. Ich selbst schreibe am endlosen Nir Miludd und das macht mich zum König meines Stammes. Es ist meine Aufgabe, das festzuhalten, was zu meinen Lebzeiten geschieht. Ich wünschte, ich könnte glücklichere Geschichten erzählen.« Er sah Revyn eindringlich an. »Möchtest du etwas hören, einen Orakelspruch? Er ist älter als deine und meine Urgroßmütter. Yelanah wird ihn gewiss gerne hören.«
    Für einen Augenblick schaute er zu ihr herüber und strich dabei durch die Seiten. Auf einer Seite hielt er inne. Eine Weile las er stillschweigend für sich, dann blickte er auf und sprach:
    »Es wurden den Elfen Kinder geboren,
die im Ewigen Nebel leben.
    Sie haben bei ihrer Seele geschworen,
ihr Leben für die Drachen zu geben.«
     
    »Das ist die Geschichte der Kleinen Götter, nicht wahr?«, fragte Revyn.
    Khaleios runzelte die Stirn. »Yelanah hat dir also schon davon erzählt. Unsere Kleine Göttin … Ich kann mich noch erinnern an damals, als du ein Kind unseres Stammes warst. Ein kleines Mädchen warst du, doch in deinen Augen glühte bereits der wilde Geist einer Kleinen Göttin. Und dann konnten wir dich nicht mehr halten. Der Sog der Nebel kam und du folgtest deinem Herzen zu den heiligen Dar’ hana. Deinem kleinen, uralten Herzen … Nun«, fuhr Khaleios fort und wandte sich wieder an Revyn, »ich will dich nicht mit dieser Geschichte langweilen, wenn du sie schon kennst. Ich werde dir etwas anderes vorlesen. Etwas, was ich selbst geschrieben habe. Ich hoffe, meine Übersetzung enttäuscht dich nicht.« Rasch blätterten seine Finger durch das Buch, dann hielten sie inne, und erneut las er so fließend vor, als hätte er sich die Worte schon lange zurechtgelegt:
    »Tage und Nächte sind stumm und taub
Wie ein Himmel ohne Sterne
    Und wir verbluten.
    Sommer und Winter schleichen vorbei
Wie Herrscher aus Tränen und Staub
    Und wir verbluten.
    Jahre um Jahre steigen an
    Wie stille Wasserfluten,
    Bis wir verbluten.«
     
    Revyn fühlte sich etwas unsicher. »Was … ähm, soll das bedeuten?«, fragte er höflich in die Stille hinein.
    »Es bedeutet, dass mein Volk dem Untergang geweiht ist. Dem langsamen, zäh voranschreitenden Untergang.«
    »Oh … aber …«
    »Aber warum«, fiel ihm Khaleios ins Wort, »warum ist es so? Warum?« Er lächelte starr. »Ja, du weißt es, Revyn Menschenjunge. Du weißt, welche Schuld dein Volk trägt.« Er nickte langsam. Ohne Revyn aus den Augen zu lassen, blätterte Khaleios eine Seite im Nir Miludd um. Seine Stimme war klangvoll und sanft, als er sprach.
    »Gerecht und mächtig wird kommen
    Der Sohn von Ahiris -
    Geboren in Schuld -
    Zur Rettung der Frommen,
    Zum Tod.«
     
    Einen Augenblick wartete Khaleios ab, ob Revyn etwas sagen wollte. Dann lächelte er wieder. »Ich sage dir, was diese Prophezeiung bedeutet, Menschenjunge. Sie prophezeit einen Schuldigen, der seine Schuld durch

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