Das Drachentor
»Um die Grenzen der Welten zu überschreiten, muss man sterben! Was glaubst du, wieso die Dar’ hana sich sonst in den Tod stürzen? Der Übergang ist qualvoll, und wer weiß, wie es jenseits der Realität überhaupt aussieht! Es muss ein Ort sein ohne Zeit und Raum, ohne Regeln …« Sie schauderte.
»Gibt es keinen Zauber, damit die Drachen, ohne zu sterben, die Welten wechseln können?«, fragte Revyn.
»Nein«, erklärte Octaris sanft. »Der Übergang ist nur im Tod möglich. Dem Sterben kann keiner entgehen, so wie niemand leben kann, ohne geboren zu werden. Doch«, Octaris zögerte, »eine Ausnahme gibt es wahrscheinlich. Wenn jemand stirbt, so muss die Seele des Verstorbenen entweichen können. Dabei öffnen sich die Tore vom Diesseits zum Jenseits und zu allen nebligen Ebenen dazwischen. Wenn nun viele Seelen ihre Körper gleichzeitig verlassen würden … vielleicht wären dann die Tore weit offen, und das lange genug, damit sich auch ein Lebender hindurchwagen kann. Aber das ist nur Spekulation - und wer weiß, wie viele Tote es brauchen würde … Nein, so viele Tote, das wäre unmöglich.« Er schüttelte den Kopf.
»Die Dar’ hana dürfen nicht unwirklich werden«, sagte Yelanah. »Sie haben auch ein Recht auf diese Welt, sie gehört auch ihnen! Ich werde nicht zulassen, dass die Menschen sie verdrängen!«
Der König strich sich mit der Hand über das Gesicht, als wolle er seine sorgenvolle Miene abwischen. »Ich kenne deine Stärke, Meleyis , und ich weiß, wie tapfer du kämpfen kannst. Auch in dir fließt Ahiris’ Macht. Du kannst versuchen, die Dar’hana aus der Gefangenschaft der Menschen zu befreien und die Zeit zurückzudrehen. Doch … ich sehe keine Hoffung. Ihr Untergang ist besiegelt. Es gibt mächtige Ahirah, die größeren Einfluss haben werden als du, Yelanah, auch wenn deine Absichten nobler sein mögen. Die großen Ahirah werden dafür sorgen, dass auch der letzte Drache verschwindet.«
Yelanah atmete schwer und ballte die Fäuste. »Wer sind diese Ahirah? Antworte! Ich werde sie töten.«
Ardhes trat erschrocken auf sie zu. »Nein!« Sogleich schloss sie wieder den Mund, als bereue sie, gesprochen zu haben. Dann hob sie stolz das Gesicht. »Die Ahirah sind machtvoller als du, Meleyis . Du kannst sie nicht aufhalten!«
Yelanah funkelte die Prinzessin wütend an.
»Bitte.« Octaris hob die Hände. »Yelanah, sei nicht vorschnell mit deinen Urteilen. Du sagst, du willst sie töten, doch einer von ihnen …«
»… wird ein König sein«, sagte Ardhes hochmütig.
Octaris nickte sichtlich verwirrt. »Ja, doch diesen meine ich nicht …«
»Revyn!« Ardhes ergriff seine Hände und zog ihn von Yelanah weg. Ein Lächeln flackerte auf ihrem Gesicht. »So lange habe ich darauf gewartet. Nun kann ich dir die Prophezeiung endlich offenbaren. Revyn … dein Schicksal ist es, die Tochter eines Elfenkönigs zu lieben. Ihr in ihr Reich zu folgen. Und den Untergang eines ganzen Volkes heraufzubeschwören.«
»Was?« Revyn trat zurück.
»Was?«, fragte Yelanah und kniff die Augen zusammen.
Ardhes drehte sich zu ihr um. »Es tut mir leid um deine Drachen! Ich wusste nicht, dass sie das Volk sein würden, das Revyn vernichten wird.«
Yelanahs Blick schwenkte zu Revyn. »Das ist dein Schicksal?«
»Nein«, rief Revyn. »Wieso sollte ich - ich versteh nicht mal, was das alles soll!«
Ardhes ergriff seine Hand und lächelte ihn an. »Es ist so vorherbestimmt! Du und ich, wir - wir werden die Welt verändern! Es war so bestimmt, von Anfang an! Ich habe dich gesehen, über all die Jahre hinweg, den Jungen, den Mann, den ich lieben soll …«
»Ardhes!« Octaris richtete sich auf und kam von seiner Empore, doch Ardhes beachtete ihn nicht.
»Revyn, hör mir zu!«, flehte sie. »Ich kenne dich besser als irgendjemand sonst! Ich weiß von deinen Geheimnissen. Ich kenne deine Vergangenheit …«
»Ardhes, nicht!« Octaris berührte ihre Schulter und zog sie von Revyn weg. Seine Hände zitterten. »Ardhes, nicht du, Yelanah … Yelanah ist die Tochter von König Khaleios.«
Ardhes starrte ihren Vater an. Dann Yelanah. Tränen standen in ihren Augen, als sie begriff.
Yelanahs Blick richtete sich auf Revyn. »Ist das wahr, dass du die Dar’hana in den Untergang treiben willst?«, fragte sie leise.
»Nein … ich …« Revyn wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste gar nichts mehr.
»Ist das wahr?«, rief Yelanah.
Octaris ließ Ardhes los. Sein Gesicht war leer, seine Stimme tonlos.
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