Das Drachentor
Ich frage mich also, was du -« Jales spitze Stimme verklang, als sie Ardhes endlich ansah. Sie erhob sich. »Was ist geschehen?« Wortlos ging Ardhes zu ihrem Bett und ließ sich auf den Rücken fallen.
»Ardhes«, sagte Jale wieder. »Was ist passiert?« Ardhes öffnete den Mund, doch sie konnte nichts sagen. Als Jale sich neben sie setzte, richtete Ardhes sich wieder auf und trat zurück.
»Sprich mit mir, Ardhes!« Die Nähe ihrer Mutter kam ihr unerträglich vor. Irgendwas - sie wollte bloß irgendwas sagen, damit sie sie jetzt in Ruhe ließ.
»Ich … ich habe dich angelogen, seit ich zehn bin. Fast jede Nacht war ich bei Octaris. Er hat mir die Zauberei der Elfen beigebracht. Und du hattest recht. Ich hätte mich von ihm fernhalten sollen! Ich hasse ihn! Ich hasse Elfen!« Sie hielt sich den Handrücken vors Gesicht, als sie kichern musste. »Aber vielleicht, vielleicht ist es auch deine Schuld, Mutter. Weißt du, wieso ich mich damals zu ihm schlich? Es war die Nacht, in der König Helrodir uns besucht hat. Ich habe euch gesehen … ich habe dich gesehen mit ihm. Da habe ich mir vorgenommen, nicht wie du zu werden, so verlogen … aber ich bin’s doch geworden, als ich heimlich zu Octaris ging. Und weißt du, was das Lustige ist? Octaris ist ebenso ein Lügner! Wir sind es alle! Wir sind alle gleich!« Königin Jale erhob sich. Wie aus Eis gehauen, stand sie da. Ardhes schauderte - nie hatte der Blick ihrer Mutter so kalt und lieblos auf ihr geruht.
»Was bist du nur für ein dummes Kind, Ardhes. Habe ich dir nicht gesagt, dass du dich vor Octaris in Acht nehmen sollst?
Wollte er dich mit einem Elf verkuppeln? Antworte, du! Wollte er einen Elf auf den Thron bringen?«
»Nein. Aber … er will verhindern, dass ich einen Menschen heirate«, flüsterte sie. Lauter wagte sie diese Worte nicht auszusprechen.
»Da siehst du es!«, sagte Jale schwer atmend. »Er mag verrückt sein, doch dumm ist Octaris nicht. Er weiß, wie entscheidend die Auswahl deines Gatten sein wird, für die Menschen und für die Elfen! Er will natürlich nicht, dass ein Mensch König wird. Aber Verlogenheit - die wirfst du mir vor!«
Ardhes weinte stumm. »Ich will nicht mehr! Ich will nichts mehr zu tun haben mit den Elfen und Menschen und der Zukunft von Awrahell! Bitte, lasst mich doch … Nur Lügen und Verrat …«
Königin Jale packte sie fest an den Armen. »Hör auf, so zu sprechen, das verbiete ich! Du bist nicht irgendeine Magd, verstanden? Du wirst einen Menschen heiraten für das Ziel, für das auch ich mein Leben gegeben habe! Jetzt hast du mit Octaris selbst erlebt, wie hinterhältig und gemein die Elfen sind. Vernichte sie mit den Waffen, die dir gegeben sind!«
»Nein.« Ardhes machte sich los. »Ich habe euch so satt, ihn und dich. Wegen Octaris habe ich dich zehn Jahre belogen und nun soll ich ihn für dich verraten? Wie könnt ihr mir das antun? Ich bin euer beider Tochter!« Jale blickte zu Boden. Dann zog sie eine Augenbraue hoch und starrte Ardhes an wie eine Fremde.
»Weißt du, Ardhes … das bist du nicht. Dein Vater ist ein edlerer König als Octaris. Ich dachte, du würdest inzwischen gemerkt haben, dass du ein vollblütiger Mensch bist.« Jale ging an ihr vorbei. Ihre Finger streiften Ardhes’ Wange. Leise schloss sie die Zimmertür hinter sich.
Die Nacht hatte sich über sie gesenkt und noch immer tobte der Sturm. Die Winde peitschten durch den Wald wie Heerscharen heulender Geister und bogen die mächtigen Bäume, als seien es Schilfrohre.
Yelanah und Revyn hatten einen Unterschlupf gefunden, wo ein großer Felsen aus der Erde brach. Es war Revyn gelungen, ein kränkliches, mattes Feuer zu entfachen, das weder genügend Licht noch Wärme spendete, um dem Unwetter zu trotzen. Doch er bemühte sich auch nicht um die Flämmchen. Er saß dicht bei Yelanah, sie flüsterten ihre Geheimnisse und schworen einander Zusammenhalt, während das Gewitter grollte und die Blitze über ihnen zuckten. Revyn spürte, wie ihm die Worte entglitten, die so lange in ihm verschlossen gewesen waren, und dass mit ihnen ein dunkler Schatten aus ihm wich. Er sagte ihr alles, alles - über seinen Vater und Miran, über das vergossene Blut in ihrem Haus, über das Schweigen. Und über seine Mutter. Darüber, wie er sie umgebracht hatte.
Worte waren es gewesen. Worte wie jetzt …
Es war Spätsommer. Brütende, schwere Hitze lag über dem Dorf. Seit Wochen wartete man auf den Regen. Revyn war spät von seiner Arbeit
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