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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Späher oder ihre Pelze, mit denen sie sich hatten tarnen können, ihre letzte Rettung gewesen. Und auch als eine Gruppe heimkehrte, ohne Haradonen begegnet zu sein, beschwor Alasar sie heimlich, den anderen Kindern etwas anderes zu erzählen; schließlich war es hauptsächlich die Furcht vor den feindlichen Besetzern, die Alasars Tunnelbauwerke in Gang hielt.
    Es gab so viel Arbeit, dass niemand bemerkte, wie es Sommer wurde. Auch als der Herbst anbrach, nahm keines der Höhlenkinder davon Notiz … und als der Winter kam, waren sie so gut mit Holz, getrocknetem Hasenfleisch und Pelzen versorgt, dass die Angst und Not des letzten Jahres vollkommen ausblieben.
    In diesem Winter gab es keine Toten, bis auf zwei alte Frauen, die friedlich starben. Nun da der Winter ihnen nichts mehr anhaben konnte, fühlten die Kinder die Stärke ihrer Gemeinschaft wie nie zuvor. Ihr Stolz erblühte. Sie waren keine Flüchtlinge mehr, sie waren die Höhlenkinder. All ihre Kraft, die sie in den Bau der Tunnel und die Erweiterung ihres Reiches steckten, speiste sich jetzt aus diesem Stolz.
    Der Winter endete früh, als weiche er vor der Lebenskraft der Kinder und dem Triumph, mit dem sie ihm entgegenlächelten. Wieder zog der Frühling ins Land. Der Kampfunterricht wurde allabendlich fortgesetzt, auch nachdem der alte Lehrer starb. Bis zu seinem Tod waren Alasar und einige seiner Gefährten gut genug geworden, um die anderen weiter auszubilden. Ganze Patrouillen hielten bald um die Felsen Wache. Aber im Grunde wurden die Waffen nicht gegen Haradonen eingesetzt, sondern für die Jagd auf Hasen, Wölfe und Wildziegen. In versteckten Tälern wurde Roggen angebaut. Auch Karotten, Rüben und Kartoffeln wurden gepflanzt, die nicht halb so pflegebedürftig und auch nicht so auffällig wie das Getreide waren. Schließlich begannen der heimliche Ackerbau und die nächtlichen Jagden die Kinder ausreichend zu versorgen.
    Die Bauarbeiten waren noch längst nicht beendet und noch immer wurde das Holz von kleinen Gruppen geholt. So vergingen auch der Sommer, der nächste Herbst, der Winter … Wie Alasar gesagt hatte: Es mochten Jahre vergehen, ehe ihr Reich so sicher und groß war, wie es ihnen gebührte. Und Jahre vergingen.
     
    Die Spuren der Zeit erkannte Alasar nicht an den Jahreszeiten, die verstrichen, nicht an sich selbst und auch nicht an dem voranschreitenden Wachstum seines Reiches. Er bemerkte sie erstmals an Magaura.
    Es begann damit, dass sie sich morgens nicht mehr von ihm anziehen lassen musste, sondern selbst in Rock und Umhang schlüpfte. Dadurch bemerkte Alasar vorerst nicht, dass sie aus den alten Kleidern herauswuchs. Es wurde enger in ihrem gemeinsamen Schlaflager, und Magaura schmiegte sich nicht mehr wie früher so fest an Alasar, dass er sich nachts aus ihrem Griff befreien musste, um besser Luft zu kriegen. Sie ließ sich auch nicht mehr von ihm baden und die Haare waschen, das alles konnte sie nun selbst. Vieles blieb Alasar anfangs verborgen, da er über die Hälfte des Tages bei den Tunnelarbeiten und nicht bei seiner Schwester verbrachte.
    Doch bald zeigten sich Veränderungen an ihr, die offensichtlich waren. Ihr Haar wuchs. Eines Morgens wachte er auf und stellte erstaunt fest, dass nicht mehr das sechsjährige Mädchen mit den verfilzten Strähnen neben ihm lag, sondern eine Fremde mit schwarzen Locken, die bis zur Taille fielen.
    Aus dem rundlichen Kindergesicht traten immer schärfere Konturen. Erstmals fielen Alasar besondere Einzelheiten an ihrem Aussehen auf: ihre gerade, etwas lange Nase, die hübschen, immer dunkler und dichter werdenden Augenbrauen, die kantigen Wangenknochen. Formen zeichneten sich unter ihrer Kleidung ab, die Alasar erst nicht bemerkte und dann absichtlich übersah.
    Die äußerlichen Veränderungen Magauras konnte er hinnehmen. Immerhin hatte sich nichts an ihrer Beziehung geändert: Täglich brachte Magaura ihm sein Essen zu den Bauarbeiten, denn sie selbst musste nicht mithacken und graben - dass seine Schwester ohne schwere Arbeit aufwuchs, dafür hatte Alasar gesorgt. Sie umarmte ihn noch immer, so fest sie konnte, wenn er ihr ein Geschenk mitbrachte, auch wenn sie sich nun über die Kristalle, die sie sich mit einer Lederschnur um den Hals band, mehr zu freuen schien als über geschnitztes Spielzeug. Wie früher lachte Magaura und wärmte Alasar damit das Herz, und sie gab ihm Küsse auf die Wange. Auch das bewundernde Leuchten in ihren Augen war noch da, wenn sie Alasar zuhörte.

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