Das Drachentor
Nein, ihr Zusammenleben war wie eh und je. Bis Magaura ihre eigene Höhle bezog.
Es war Abend, und Alasar kehrte erschöpft mit einer Gruppe Kinder von den Grabungen zurück, als er seine Schlafstätte leer vorfand. Magauras Decken fehlten; auch ihre Kleider und liebsten Schmuckstücke, die sonst immer neben dem Bett lagen, waren weg.
»Magaura? Magaura!«, rief er. Sie tauchte in einer Felsnische auf und kam zu ihm gelaufen.
»Ich bin hier«, antwortete sie gelassen.
Verständnislos starrte Alasar sie an. »Wo sind deine Schlafsachen?«
»In meinem neuen Lager.«
»Deinem Lager?«
»Meinem neuen Lager.« Bevor Alasar etwas erwidern konnte, fügte sie hinzu: »Du hast auch deine eigene Höhle. Mehrere sogar! Deine Ecke fürs Nachdenken, deine Höhle, um dich mit anderen zu beraten, deinen Raum für persönliche Vorräte … Jetzt will ich auch ein eigenes Lager haben, so wie du.«
»Und du schläfst auch in deinem Lager?«
Magaura nickte. Bevor Alasar noch etwas erwidern konnte, umarmte sie ihn und rannte davon. Jetzt da er sie so von hinten laufen sah, erkannte Alasar seine Schwester in diesem fremden Mädchen nicht wieder.
»Seit wann kämmst du dir die Haare?«, rief er ihr hinterher, aber sie war schon hinter den Felsen verschwunden.
Es war das erste Mal, dass Alasar mit Rahjel über ein Problem mit Magaura sprach. Sie saßen etwas abseits von der Halle, in der die anderen Kinder ihren allabendlichen Kampfunterricht abhielten. Das Klirren der Schwerter und die Rufe der Übenden hallten in den Gewölben wider.
»Es ist zum Verrücktwerden«, murmelte Alasar. »Ich meine - sie hat sich doch immer gefürchtet, wenn sie alleine aufgewacht ist!« Er biss wütend die Zähne zusammen, denn er wusste, dass Magaura sich schon seit Jahren nicht mehr fürchtete.
Rahjel lächelte sein rätselhaftes Lächeln und senkte das Gesicht. »Nun, jeder verändert sich …«
»Ich habe mich nicht verändert«, antwortete Alasar schroff.
Jetzt lachte Rahjel. »Ach nein?«
»Nein.«
Rahjel beugte sich zu ihm vor und räusperte sich grinsend. »Sag mal, wann hast du das letzte Mal dein Spiegelbild gesehen?«
»Mein Spiegelbild ?« Alasar zog die Brauen zusammen. »Wieso sollte ich mich selbst anschauen? Glaubst du, ich habe nichts Besseres zu tun?«
»Natürlich hast du was Besseres zu tun. Aber … Alasar, willst du mir ehrlich weismachen, du hast nicht bemerkt, dass du älter geworden bist? Du und Magaura und wir alle?«
Alasar starrte seinen Freund an und erkannte, dass es nicht das Gesicht des Jungen war, der ihm einst das Leben gerettet hatte. Es war länger geworden, schmaler - es war das Gesicht eines siebzehnjährigen jungen Mannes. Nur die dunklen Augen waren gleich geblieben und hatten noch immer ihr kindliches Leuchten.
»Sieh da rüber«, fuhr Rahjel fort und deutete auf einen Jungen unter den Kämpfenden, der acht oder neun Jahre alt sein mochte. »Da ist Tivam. Er ist jetzt seit einem halben Jahr beim Unterricht dabei.« Alasar erwiderte nichts. Er war ja nicht dumm, dass er Tivam nicht bemerkt hätte, der neuerdings an Rahjels Seite klebte und ihm durch seine wuscheligen schwarzen Locken hindurch die bewundernden Blicke eines kleinen Bruders zuwarf.
»Die Zeit geht nicht spurlos an uns vorüber«, sagte Rahjel. »Wir sind eben keine Kinder mehr.«
Plötzlich war Alasar auf den Beinen und stieß Rahjel so fest gegen die Schultern, dass er zu Boden fiel. Erschrocken sah er zu ihm auf. »Das sagst du nie wieder!«, zischte Alasar. Der Finger, mit dem er auf Rahjel deutete, zitterte. »Nie wieder sagst du, dass wir keine Kinder sind, wir, die Höhlenkinder! Nie wieder, hast du kapiert?«
Rahjel rührte sich nicht. Ganz langsam nickte er. Alasars Lippen wurden zu einem weißen dünnen Strich, dann machte er kehrt und lief davon.
In dieser Nacht irrte er durch die Grotten, folgte dem Flüstern und Singen des Windes, der hier unten gefangen war, und sah immer wieder Magauras und Rahjels Gesichter vor sich, wie sie einst waren und jetzt. Vage erinnerte er sich an eine Zeit, da er Rahjel um fast einen Kopf überragt hatte, und dann, wie ihn sein Freund innerhalb weniger Monate eingeholt hatte. Alasar dachte an Magaura … aber er ließ die Gedanken nicht zu, die ihm den Wechsel vom Kind zur Frau zeigen wollten.
Irgendwann kniete er vor einer Pfütze im Gestein nieder. Er steckte seine Fackel in einer Felsritze fest und beugte sich über sein Spiegelbild.
Das ernste Gesicht eines Mannes war vor
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